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THE GREY - Allein unter Wölfen (2012)

Wow, das war doch mal ein beeindruckendes und konsequent existenzialistisches Drama.
Hier geht's echt ans Eingemachte.
Verhandelt wird der Wert des einzelnen Individuums angesichts der natur-immanenten nivellierenden Kraft der Vergänglichkeit.
Im Grunde wären die Wölfe als Allegorie fast verzichtbar gewesen.
Liam Neeson ist überragend. Vor allem in den letzten Szenen des Films.
Ich mag die Mehrdeutigkeit des Titels. "The Grey" dient einerseits als Bezeichnung für die Wölfe. Ebenso kann die endlose Schneelandschaft und der wolkenverhangene Himmel gemeint sein, in denen sich alle Konturen zu verlieren drohen. Als auch der menschliche Geist, von Gleichgültigkeit, Apathie, Negativität verschleiert.

Eventuelle Logiklöcher, unangemessene Darstellung des Wolfes (ich hoffe mal, die Zuschauer werden hier Realität von Fiktion unterscheiden können), Spannung und Action - das wurde für mich alles sekundär bis irrelevant bei einer Handlung die die Existenz bis auf den nackten Kern entblättert, die die Protagonisten, stellvertretend für uns alle, mehr und mehr sich am letzten Stückchen Leben und Individualität festklammern läßt. Dahingehend gibt es viele spannende Dialoge und Szenen, die zumindest ich absolut tiefgreifend, anrührend oder erschütternd fand.
Selten wurde die letztendliche Hinfälligkeit unseres Behauptungswillens, Strebens und Tuns, sowie die beständige Präsenz des Todes, in einem Kunstwerk spürbarer als in diesem Film.
Selten hat mich ein Film so dermaßen gerissen und emotional durchgeschüttelt wie dieser hier.

So, anschließend gibt's ein paar Spoiler:
Zu Beginn der Handlung besteigen wir ein Flugzeug voll mit bärtigen, ungehobelten Typen und Liam Neesons Ottway ist verschlossen und suizidal. Davon ausgehend ist es beachtlich, wie viel Mitgefühl man für jedes einzelne Mitglied der Gruppe entwickelt, wie sehr man jeden zu schätzen lernt. Wie jedes Opfer fast als persönlicher Verlust empfunden wird.
Schon die erste Sterbeszene, direkt nach dem Absturz, setzt den Ton. Schonungslos und doch würdevoll. Ganz nahe am Geschehen, voller Intimität, ohne ins Voyeuristische abzugleiten.
Gerade der Abgang des unsympathischsten Mannes, der sich, nach langer Flucht und verzweifeltem Kampf, schließlich körperlich und mental außerstande sieht weiterzugehen, ergreift einen zutiefst. Wenn er sich am Rande des Flußes niedersetzt, im Hintergrund die schneebedeckten Berge, und alles Gehetztsein und Rollenspiel von ihm abfällt, sind das unglaublich nahe gehende, grundlegend menschliche Momente, unterhalb der vordergründigen Traurigkeit überfließend angefüllt mit Authentizität, Losgelöstheit, Schönheit. Er sieht die Welt plötzlich mit anderen Augen als seine beiden verbliebenen Begleiter.
Thematisch kulminiert die Geschichte schließlich in der letzen Sequenz vor der Wolfshöhle, beim Blick auf die angesammelten Brieftaschen. Alles führt hin zu diesem einen Moment, der den Wert der menschlichen Individualität zugleich in Frage stellt und herzergreifend feiert. Ganze Leben werden durch die Portraitfotos angedeutet und sich entfalten lassen, während Ottway seinen inneren Daseinsfunken wiederfindet. Und seine verstorbene Frau ihm schließlich nochmals aus dem Jenseits der Erinnerung zuflüstert: "Hab' keine Angst."
Daß es diesem Film kaum um reißerische Action geht, zeigt sich erneut deutlich, indem uns der schlußendliche Showdown, der abschließende Kampf zwischen Ottway und dem Alpha-Wolf versagt wird. Stattdessen: Schnitt zu Schwarz und Abspann.
Es sind die stillen Momente, die am deutlichsten nachwirken.
"The Grey" traut sich mit erstaunlicher und ehrlicher Konsequenz an eine grundlegende Wahrheit heran, die wir ansonsten nur zu gerne verdrängen. Gestorben wird in anderen Filmen auch - aber nicht so wie in diesem.
Letzten Endes läßt die Entwicklung existenzielle Hoffnung nur noch auf einer jenseitigen Ebene zu. Symbolisieren die wiederkehrenden Szenen mit seiner Frau und seinem Vater lediglich Ottways Wunschbilder oder eine erneute Zusammenkunft auf der anderen Seite der Nacht? Das zu deuten bleibt jedem Zuschauer selbst überlassen.

Man kann "The Grey" durchaus einfach nur als fatalistisch und bedrückend empfinden. Diese Lesart ist ebenso verständlich. Ich empfand ihn als positiven Weckruf. Als Aufforderung, nichts als selbstverständlich zu nehmen. Dankbar zu sein, für alles, was über die nackte Existenz hinaus geht. Der Wert des Lebens wird einem vielleicht gerade dann wieder ins Gedächtnis gerufen, wenn man es in all seiner Fragilität und Bedrohtheit sieht. Die Kostbarkeit und Einzigartigkeit des Individuums scheint kurz vor seinem Verglühen am deutlichsten auf. Es wäre wünschenswert, wenn wir das Wunder der Existenz beständig mit solcher Bewußtheit und Aufmerksamkeit wahrnehmen könnten.

- Heiko - 01/2013