*SPOILER*
In Jonathan Glazers Sci-Fi-Psycho-Horror-Sozialstudien-Fakedoku-Drama "Under
The Skin" prallen die Widersprüchlichkeiten aufeinander und gehen
eine bizarre Symbiose ein, die kein Rezipient irritationsfrei überstehen
dürfte. Authentische, teils mit versteckter Kamera gefilmte, realitätscharfstellende
und dann andererseits überstilisierte surreal wirkende Sequenzen. Nüchterne,
bodenständige Alltagsbeobachtungen und dazu kontrastierend ein beunruhigender,
zuweilen hypnotischer, zuweilen nervenzerrender, Geräuschkulisse inkludierender
Soundtrack. Menschen und Umwelt in unmittelbarer Lebensnähe, bar jeglicher
Intimität durch die Fischaugenlinsigkeit einer fremdartigen, isolierten
Entität betrachtet. Ein schlichter, vor allem in der ersten Hälfte
relativ repetitiver Plot und so gut wie überhaupt keine die vorhandenen
Unklarheiten beseitigende Exposition, begleitet von umgemein reichhaltigem
Subtext und Symbolismus. Scarlett Johansson, ein weitläufig bebilderter
und prominenter Filmstar, völlig jenseits allen Glamours und aller Pose
agierend. Zieht sie ihrer Figur situationsbedingt eine emotive humane Maske
auf, sind nur wir als mittreibende dritte Person in der Lage ihr gruseliges
Doppelspiel zu durchblicken.
"Under The Skin" ist die Geschichte eines Alien, welches seine Distanziertheit
zur Welt und den Menschen zu überwinden trachtet, an den Erfahrungswirklichkeiten
anderer teilhaben möchte, andere nicht länger allein als Mittel
zum Zweck zu sehen bereit ist und aus seinem von außen aufoktruierten
beziehungsweise angeborenen Rollenbild auszubrechen versucht. Es ist das zarte
Erwachen von Emotion, Empathie, Individualität, dessen wir hier teilhaftig
werden. Protagonistin Laura wächst durch unterschiedliche Begegnungen
und Erlebnisse langsam über ihre anfängliche Funktion als extraterrestrische
Venusmännerfalle hinaus. Wegstrebend von ihrer gleich in der ersten Realszene
versinnbildlichten Austauschbarkeit, in welcher sie im kontur- und eigenschaftslosen
Weißraum in die vorgegebene Form ihrer entleibten Vorgängerin schlüpft.
Zuerst mit Anflügen, wie von kindlicher Neugier, zunehmend aber von erfahrungshungernden
und im Inneren und Äußeren bindungsverlangenden Sehnsüchten
getrieben. Tragischerweise bleibt ihr letzten Endes die Integration in den
neuen Daseinsraum verwehrt - zu groß und fremdartig sind die mentalen
und physischen Begrenzungen mit denen sie/es konfrontiert wird. So traurig.
Und so realistisch.
Als allegorische Bebilderung einer psychischen Störung oder Krankheit
läßt es sich ebenso zwanglos lesbar machen.
Der gebotene Interpretationsspielraum, die mehr oder weniger klar ausgeprägten
und intendierten Themen und Metaphern, ihre konsequente detailreiche und virtuose
Umsetzung sind es letztlich, die dieses Werk so außergewöhnlich
und ungemein sehenswert werden lassen. Glazer parodiert zum einen fast schon
das Rollenklischee von den schönen, für Männer begehrenswert
erscheinenden Frauen in massentauglichen Filmproduktionen. Darüber hinaus
prangert er die Objektivierung von Frauen abseits der Zelluloiddarstellung
in der Gesellschaft an, sensibilisiert unsere Wahrnehmung oder regt zumindest
zur Selbstreflektion derselben an. Daß er für die Hauptrolle Scarlett
Johansson gewinnen konnte, als eines der klassischen, einer weiten Öffentlichkeit
bekanntesten Sexsymbole der letzten Jahre, pointiert und unterstreicht als
brillanter Casting-Kunstgriff diese Aussage zusätzlich noch.
Laura will sehen was unter der Haut verborgen ist, will jenseits der Oberflächlichkeit
gelangen, will ihren eigenen selbstbestimmten Weg gehen und Agenda sowie Autarkie
über ihren Geist und Körper (wieder-) erlangen. Will dem Kampf der
Geschlechter und der mechanischen Verführung als lockstoffiger Beutefangmethode
delikater Kerle eine klare Absage erteilen. Ganz egal, was ihre stoischen
motorradfahrenden Kollegen (hat hier jemand das Wort "Zuhälter"
gerufen?) und der Rest ihrer bornierten Zivilisation davon halten mögen.
Leider, leider, hat man drehbuchtechnisch das Finale etwas verkackt. Man muß
das einfach so sagen. Das hat dann bei meiner Wertung mindestens einen oder
zwei Punkte ausgemacht. Daß Lauras Selbstfindungs- und Befreiungsversuch
(für den zum teil atemberaubende Szenen und Bilder gefunden werden) letztlich
negativ endet, ist okay und eine pessimistische Haltung der Eindrücklichkeit
des Themas wahrscheinlich am zuträglichsten. Nichts dagegen einzuwenden,
daß die konservativen Kräfte sie wieder einholen, daß im
Verlauf die reaktionären Arschlöcher doch noch gewinnen und sie
gebrochen, wenn nicht gar völlig zerstört zurücklassen. Dieses
allerdings konkret und ausgesprochen überraschend mit einem wortwörtlich
dahergelaufenen Waldarbeiter zu tun, der sich nach freundlicher Begrüßung
schnell als eiskalter und brutaler Sexualstraftäter enttarnt, ist erstaunlicherweise
das unglaubwürdigste Handlungselement des ganzen Films. Dieser Twist
trifft einen unsanft mit der Wucht eines thematischen Holzhammers von der
Größe der schottischen Highlands. Wie konnte dieses Element bei
all der überlangen Produktionszeit überdauern? Das Drehbuch ist
doch sicher desöfteren überarbeitet worden. Wie konnte sich solch
ein männerverachtend wirkender und in Diskrepanz zur vorhergehenden Ausgewogenheit
und Nuanciertheit stehender Handlungssprung halten? Er zieht zwar nicht gleich
den ganzen Film in Zweifel, schmälert aber seine Wirkung und Integrität.
Das hat bei mir einen sehr schalen Nachgeschmack hinterlassen. Also, wie bringen
wir denn nun die Story zu Abschluß? Zufälliger Vergewaltiger in
Wald? Ach ja ... das könnte passen. Das ist jedenfalls interessanter
und schockierender als wenn die Motorradgang ihres Heimatplaneten sie aufspürt,
was der Zuschauer an diesem Punkt ja eigentlich erwarten würde. Außerdem
betonen wir damit nochmals die destruktiven triebhaften Tendenzen des männlichen
Geschlechts auf's nachhaltigste. Oh c'mon!! Die leider immer noch allzu häufig
vorkommende unangemessene und einseitige Darstellung der Frau in den Medien
zu kontrastieren gelang zuvor doch, wie gesagt, wunderbar. Ich vermag darüber
hinaus kein schlüssiges Argument für diese selbstanklagende Szene
zu erkennen. Einem Minus mit einem zweiten zu begegnen ergibt halt nur in
der Mathematik ein Plus. Nope, auf diese Weise hämmert man kein um Ausgleich
und Annäherung bemühtes feministisches Manifest ins Bewußtsein
seines üpsilonchromosomen Publikums. Zumindest läßt das verzerrende
Blendlicht dieses tonalen Ausreißers alles vohergehende nicht unangetastet:
der sympathische und fürsorgliche Typ etwa, mit dem Laura früher
zusammentraf, war dem zufolge wohl auch nur nett zu ihr, weil er sie ins Bett
kriegen wollte. Eben nur eine weitere, anderspolare, rein zweckdienliche Strategie
des selbstsüchtig zielorientierten männlichen Antriebs.
Sorry, daß ich so darauf herumreite, aber das Ende einer Erzählung
ist nun einmal elementar wichtig. Ich erwarte keine totale Punktlandung, aber
doch eine halbwegs stimmige Konklusion. Das hier hat mich echt gewurmt. Das
war so unnötig.
Dennoch bleibt abseits dieses kleinen Schönheitsfehlers "Under The
Skin" unterm Strich ein hypnotisches, stimmungsvolles, audiovisuell stimulierendes,
thematisch herausforderndes, einzigartiges kleines Meisterwerk.
Zwei der erschütternsten Sequenzen der letzten Jahr(zehnt)e will ich
abschließend doch nicht unerwähnt lassen. Die eine spielt am steinigen
Atlantikstrand und die andere in einer dunklen Umkehrung der Ursuppe. Hilflos
herumtreibende und -liegende Männer und ein hilflos weinendes Baby. Nix
für die Zartbesaiteten unter uns. Ich wollt's auch nur mal abschüttelungsversuchstechnisch
gesagt haben. Loslassen wird's mich auch ausgesprochen allerdings wohl noch
lange nicht. Das gilt natürlich ebenso für Lauras Entpuppung und
anschließende Auslöschung. Diese wissen einen sehr zu berühren
und bleiben im Gedächtnis. Schade, daß ich in diesen letzten Momenten
noch zu sehr mit Augenrollen beschäftigt war. Im Rückblick werden
die Bilder und Emotionen allerdings wieder deutlich sicht- und spürbar,
vermitteln sich so ungemein elementar herzergreifend und visuell poetisch.
Okay, hier noch ein Fun Fact, der keiner ist, am detailverliebten Rande: durch
den krassen Dialekt der schottischen Bevölkerung dürfte ohne Untertitelung
wahrscheinlich selbst ein englischer Muttersprachler, abseits von Scarlett,
kaum ein gesprochenes Wort verstehen. Was sinnigerweise beiträgt zum
vorherrschenden Gefühl von Entfremdung, Fremdheit, Befremdlichkeit, in
welches man hineingeworfen wird. Außerdem unterstreicht es noch einmal
den zutiefst cinematischen Ansatz von "Under The Skin", auch im
Kontrast stehend zur eher satirisch gefärbten Buchvorlage die angeblich
keine ausdeutbaren Unsicherheiten hinterläßt, wenn die Dialoge
zur Nebensache geraten dürfen und man trotzdem oder gerade deswegen das
Wesentliche mitbekommt.
So. Jetzt will ich zeitnah unbedingt auch noch "Birth" sehen. Schön,
daß, wie der Zufall es so will, bei mir im Regal seit längerem
eine Kopie desselben liegt. Bin schon sehr gespannt. Es wird wirklich mal
Zeit.
Wird dort ebenso wie hier an den Grundfesten der Wahrnehmung und der Selbstverständlichkeit
der Existenz gerüttelt? Bleibt man mit Fragen und Einsichten zurück?
tldr:
Es liegt eine grundlegende Tragik darin, wenn eröffnetes Potential unausgeschöpft
bleibt, wenn die einzigartige Schneeflocke sich auflöst, noch bevor sie
sich herauszukristallisieren vermag. Und es liegt eine grundlegende Tragik
begründet in unaufgelöster Vereinzelung.
- Heiko - 08/2014