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Kari Bremnes – Mitt ville hjerte (1987)

Gleich für ihr erstes Soloalbum "Mitt ville hjerte" ("Mein wildes Herz"), welches 1987 erschienen ist, hat Kari Bremnes den Spellemanpris (quasi den norwegischen Grammy) bekommen. OK, wenn man sich anschaut, wer bei solchen Preisverleihungen in den USA oder auch in Deutschland schon so alles ausgezeichnet worden ist, muß das nicht gerade ein Zeichen für musikalische oder gesangliche Qualität sein. Nimmt man allerdings dieses Album als Beispiel, scheint in Norwegen doch mit etwas anderen Maßstäben gemessen zu werden, wobei es sich allerdings meiner Kenntnis entzieht, ob nicht auch dort schon irgendwelche Schnulzenfuzzis oder 08/15-Bands, bei denen das Image wichtiger als die Musik ist, ausgezeichnet worden sind.

Ungewöhnlich für ein Debütalbum erscheint mir die Tatsache, daß es sich vorliegend um Gedichtvertonungen handelt und daß diese Gedichte der Dänin Tove Ditlevsen (1918-1976) von einer Norwegerin dargeboten werden. Gut, nun sind Norwegisch – oder besser: bokmål – und Dänisch ohnehin sehr nah miteinander verwandt, und die Unterschiede stellt man hier allenfalls beim Schriftbild fest, was wiederum daran liegen dürfte, daß Karis Aussprache auch bei den dänischen Texten eher "norwegisch" bleibt (sonst würde es wohl mehr nach Rachenkrankheit klingen). Wie dem auch sei, wie bei fast allen Alben von Kari Bremnes steht auch beim Debüt ganz klar ihre Stimme im Mittelpunkt, und mit dieser gelingt es ihr nahezu perfekt, die Stimmungen in den Texten wiederzugeben. Als Beispiel sei hier an erster Stelle das Stück "Erindring" ("Erinnerung") genannt: Perfekter kann man die Wehmut in dem Text, der von der Sehnsucht nach einer unbeschwerten Kindheit handelt, nicht hörbar machen! Definitiv einer der schönsten, gefühlvollsten und berührendsten Songs von Kari Bremnes. Einiges an Wehmut/Schwermut steckt auch in "Børnene" ("Die Kinder") und "Vuggevise" ("Wiegenlied"). In dem erstgenannten Lied werden aus Elternsicht das Aufwachsen der eigenen Kinder und die damit verbundenen Gefühle geschildert:

"Zunächst waren sie süße Erwartung und große unaussprechliche Freude – verwandt mit Wolken und Sternen und überall gegenwärtig. So wurden sie lebhafte, nahe, kleine, selbständige Gedanken – zwei Augen, die den Mond spiegeln, ein Herz, das einsam schlägt. Getrippel klitzekleiner Füße ertönte im ganzen Haus, ertönt noch in unserem Herzen, wehmütig im Raunen der Nacht. Plötzlich erhoben sie die Blick und vergaßen die kindlichen Spiele, bekamen entfernte, unruhige Augen und Verlangen nach dunklen Wegen. Sie erhoben die jungen Nacken und es wurde ihnen zu eng im Haus – der Regen wischte rasch die Spuren im Kies aus. Der Regen spülte schnell die Tränen von der Wange – die rauhen, veränderten Stimmen flatterten fort mit dem Wind. – – – Aber da sie gute Kinder waren, sahen wir sie oft seitdem; zwei Stunden beim Sonntagskaffee saßen sie und vergeudeten die Zeit, gingen so gegen Abend, wohin, erfuhren wir nie – wir winkten ihnen zu von der Gartenpforte, stumm, nebeneinander stehend. Die Dunkelheit ist sanft und behutsam, Regentropfen sind so rein – gute Kinder sind ein Geschenk. Es ist schlimm, alleine zu sein."

(Mag ja sein, daß ich voreingenommen bin, aber demgegenüber sind die meisten "Megaseller"-Balladen aus dem englisch-amerikanischen Raum schlicht und einfach gesichts- und seelenlos!)

"Vuggevise" handelt zunächst von dem Schutz und der Geborgenheit, die Eltern ihren kleinen Kindern bieten können: "Der Troll, von dem du träumtest, ist fortgeküßt. Die böse Hexe hat meine Züge bekommen. Dein großer Vater ist nicht mehr ein Drache. Er lächelt den Schatten in deinem Herzen weg. Mein ängstlicher Junge, mein armer kleiner Kerl: ich weiß so gut um die Angst, die du getroffen hast. Du suchst den Daumen mit deiner Zunge, bald wirst du alles vergessen und süß schlafen." Doch diese Geborgenheit ist nicht von Dauer: "Aber schlimme Träume sind ein geerbtes Mahr, das nur eine kurze Weile fortgejagt werden kann. Eine alte Sage von Sünde und Leid und Gefahr steht bereits um deinen Mund gezeichnet. Noch eine Weile werden sanfte Worte und Lieder von unseren Lippen den Traum wegwischen. Und noch sind die heiteren Tage lang, und die Angst ist leicht zu vertreiben und kurz. So erwachst du eines Nachts und wirst nicht getröstet wie zuvor von unseren liebkosenden Worten. Du siehst die erwachsene Angst in unseren Blicken und fürchtest zum ersten Mal deinen Vater und deine Mutter."

Ich will mich jetzt nicht zu weit in irgendwelche Interpretationen versteigen, aber wenn man weiß, daß Tove Ditlevsen im Kopenhagener Arbeiterviertel Vesterbro aufgewachsen ist und bereits die allgemeine wirtschaftliche Situation in den 20er und 30er Jahren alles andere als rosig war, halte ich es für naheliegend, daß sich in den vorgenannten Texten auch eigene Kindheitserfahrungen wiederspiegeln, daß sich z.B. die (wirtschaftlichen) Sorgen der Eltern nicht dauerhaft vor den Kindern verbergen lassen.

An dieser Stelle noch einige Worte zu Tove Ditlevsen: Bereits als junges Mädchen wollte sie Dichterin werden, stieß damit aber in ihrer Umgebung nur auf Unverständnis, woraufhin sie sich in die innere Isolation zurückzog. Mit 14 verläßt sie die Schule, mit 18 ihr Zuhause. Wenige Jahre später heiratet sie ihren ersten Mann, einen viele Jahre älteren Redakteur einer kleinen literarischen Zeitschrift, in der Annahme, nur durch jemanden wie ihn als Dichterin weiterzukommen. Ebenso wie die erste Ehe scheitert auch die zweite mit einem Studenten aus den Kopenhagener Künstler- und Intellektuellenkreisen. Ihren dritten Mann, einen Arzt, heiratet Tove allein, weil sie über ihn an das Narkotikum Pethidin kommt, welches sie von ihm bei einem Schwangerschaftsabbruch zum ersten Mal erhalten hat. Aus ihrer Sucht kann sie sich nach 5 Jahren schließlich nur noch durch die Angst befreien, nicht nur ihre Kinder zu verlieren, sondern auch nie wieder schreiben zu können. Nach dem Entzug folgt die vierte Ehe, die aber auch scheitert. Kurz darauf (1967) schreibt sie die Bände Barndom (Kindheit) und Ungdom (Jugend), die zusammen mit dem 1971 erschienenen Gift (Sucht) den Zyklus Erindringer (Erinnerungen) bilden. Ich vermute, daß die Texte auf "Mitt ville hjerte" allesamt aus diesen Bänden stammen (leider sind im CD-Booklet keine näheren Quellenangaben zu finden). Wenn man diese Lebensgeschichte sieht, kann man gut nachvollziehen, wo die Sehnsucht, die Wehmut und Angst, auf die man in den Texten stößt, ihren Ursprung hat. In Kindlers neuem Literatur-Lexikon liest man dazu: "Grundlegend für ihre Persönlichkeitsentwicklung war die von Furcht und Unsicherheit geprägte Beziehung zur Mutter. Geborgenheit fand bereits das junge Mädchen allein in der Poesie. Diese frühe Entfremdung vom familiären Milieu erzeugte in Tove Ditlevsen eine Wurzellosigkeit, die durch ihren späteren Ausbruch aus der Welt Vesterbros in die Kreise der Künstler und Literaten eher verstärkt als gemildert wurde. Obwohl sie sich zeitlebens nach der Sicherheit und Normalität eines bürgerlichen Ehe- und Familienlebens sehnte, verließ die innere Unrast sie nie und sie fühlte sich wirklich nur dann glücklich, wenn sie am Schreibtisch saß und in ihrer Arbeit aufgehend den Alltag vergessen konnte...Im Privatleben äußerte sich ihre seelische Zersplitterung in immer wiederkehrenden depressiven Psychosen und Tove Ditlevsen selber sah darin auch den Hauptgrund für das Scheitern ihrer Ehen."

Zurück zum Album: Wenn es einen Kritikpunkt gibt, dann den, daß es die zwölf Songs mit einer Länge zwischen 1 ½ und 3 Minuten insgesamt gerade mal auf eine Spieldauer von nur etwas mehr als einer halben Stunde bringen. Im direkten Vergleich dazu ist das 6 Jahre später erschiene Album "Løsrivelse" mit Vertonungen von Gedichten von Edvard Much doppelt so lang ausgefallen, was aber auch daran liegen mag, daß dessen von Ketil Bjørnstad stammende Kompositionen musikalisch weitaus verspielter sind. Demgegenüber wirkt die Musik von Petter Henriksen auf "Mitt ville hjerte" nahezu spartanisch. Auch die Instrumentierung ist auf Drums, Percussion und Keyboard beschränkt. Dies ändert aber nichts daran, daß "Mitt ville hjerte" – vor allem auch wegen Karis Gesang – ein wirklich hörenswertes Album ist, bei dem mir musikalisch neben den drei bereits oben genannten Stücken das erste Lied "Mit hjerte hamrer og hamrer" ("Mein Herz hämmert und hämmert"), welches mit verändertem Arrangement und englischem Text auch auf "Norwegian Mood" zu hören ist, am besten gefällt. Textlich sehr interessant finde ich den zweiten Song "Heksen" ("Die Hexe"), in dem sich die Erzählerin selbst mit einem Haus vergleicht:"Geh nicht in das Haus hinein. Hier hat eine Hexe ihr Zuhause.Aus ihren grünen Augen blitzt das Feuer gefährlich hervor. – Hinter Paneel und Türen sind graue Gespenster verborgen. Dort leuchten andere Augen, so meerkatzengelb. – Aber alles ist bestreut mit Gold und Edelsteinen, so viele Abenteurer gingen jedoch alleine dort hinein. – Ein Drache fraß sie alle, siebenköpfig und häßlich. Er schläft den ganzen Tag im hohlen Rücken der Hexe. – Geh nicht in das Haus hinein, der schöne Anblick blendet dich, denn der Drache ist mein Herz und die Hexe sieht aus wie ich." Der metaphorische Vergleich eines Menschen mit einem Haus erinnert mich an "Get Out Of My House" von Kate Bush. Apropos Kate Bush: der vorletzte Song "En mands kærlighed" ("Eines Mannes Liebe") erinnert mich von der irgendwie rummelplatzartigen Stimmung her an "Coffee Homeground" und fällt damit im Vergleich zu den anderen Songs stimmungsmäßig etwas aus dem Rahmen.

Zu den restlichen 6 Liedern spare ich mir jetzt mal nähere Kommentare, da diese Rezension schon so lang genug ist. Wer gerne die kompletten Übersetzungen aller Songtexte haben will, kann sich ja melden (wobei ich für die Richtigkeit keine Gewähr übernehmen kann) oder nach einer professionellen Übersetzung der Werke von Tove Ditlevsen im Buchhandel Ausschau halten.

Eine Frage zum Abschluß: Beim norwegischen Label Kirkelig Kulturverksted sind mit dem hier besprochenen Album sowie "Løsrivelse", "Ett liv" und "Haugtussa" vier Alben mit Gedichtvertonungen erschienen (vielleicht gibt΄s noch weitere, die ich nicht kenne), die – insbesondere was die letzten drei angeht – musikalisch absolut erstklassig sind. Mit Gedichten habe ich es ja eigentlich nicht so, aber wenn selbst ein "Poesiebanause" wie ich über die Musik dazu gebracht wird, sich mit den Texten zu befassen und nachzuschlagen, wer denn die Verfasser waren (woher kennt man hier schon Tove Ditlevsen, Edith Södergran oder Arne Garborg?), dann will das schon etwas heißen. Wieso gibt es vergleichbare Platten nicht in Deutschland??? (Oder weiß ich nur nichts davon?) Liegt΄s daran, daß "wir" keinen Ketil Bjørnstad haben, der übrigens neben der Musik für die drei letztgenannten Alben u.a. auch noch mit "Salomos Høysang" (eingesungen von Lill Lindfors und Tommy Nilsson) für eine nicht minder hörenswerte Vertonung von Teilen des Hoheliedes Salomos gesorgt hat? Oder daran, daß hierzulande mehr das "Ich bin so blöd, ich bin so voll, ich bin der allerletzte Proll"-Niveau gefragt ist? Denk ich an den deutschen Musikmarkt in der Nacht....

- Burkhard - 03/01

[Eine Übersetzung der Texte - ohne Anspruch auf völlige Korrektheit - ist bei Burkhard erhältlich. Siehe Impressum]