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Aldous Huxley – Schöne neue Welt (Brave New World) (1932)

Im Rahmen der alljährlichen Materialschlacht der Privatsender, die zur Weihnachtszeit im Kampf um Quoten und Werbeeinnahmen regelmäßig ihre Spielfilm-Highlights aus den Archiven zerren und sie den TV-Konsumenten geballt, in zigfachster Wiederholung und zu teils unmöglichen Sendezeiten um die Ohren hauen, wurde neulich doch tatsächlich wieder mal ein kleines Schmankerl zu Tage gefördert. Unter dem Titel Geklonte Zukunft stand zu nachtschlafender Zeit ein Science Fiction Film auf dem Programm, ohne Fotoabdruck in der Fernsehzeitschrift und mit einem einzigen Satz mehr als nur knapp beschrieben, und wäre ich nicht eher zufällig über den kleingedruckten Hinweis "frei nach Huxley" gestolpert, wäre dieses Machwerk wohl auch ohne meine Sehbeteiligung über die Mattscheibe geflimmert.

Wie sich herausstellte handelte es sich bei Geklonte Zukunft (ein eher reißerischer Titel: geklont war hier aber auch rein gar nichts...) um eine – zugegebenermaßen etwas unspektakuläre - Verfilmung von Aldous Huxleys utopischem Roman Brave New World aus dem Jahre 1932, der ähnlich wie das wohl weitaus populärere 1984 von George Orwell (erschienen 1949) eine augenscheinlich perfekt funktionierende moderne Gesellschaft thematisiert, deren Wohlstand und Harmonie aber bei genauerem Hinsehen auf Kosten von Menschlichkeit und Moral errungen wurden.
Der Film selbst war trotz der Reduzierung auf das allernotwendigste zwar alles andere als uninteressant, wurde aber der Tiefe von Huxleys Werk nur ansatzweise gerecht, so daß ich mich der bereits vor über 20 Jahren gelesenen Romanvorlage entsann, die seither im Bücherregal vor sich hinstaubte, und sie mir gewissermaßen alternativ zum Jahreswechsel noch einmal vornahm.

Also: Worum ging es Huxley, der so manchem vielleicht durch seine Abhandlung Die Pforten der Wahrnehmung (The Doors of Perception) geläufig sein dürfte, die als Initialzündung für Jim Morrison & Co. diente, in seiner Zukunftsvision?

In einer fiktiven Nachkriegszeit, in der eine rationale Weltregierung die Geschicke der Menschheit nach rein wissenschaftlichen Prinzipien lenkt und in der Kunst, Poesie, Religion und Philosophie zwar nicht unbedingt verboten sind bzw. den Menschen nicht unbedingt vorenthalten werden, diese aber aus nur zu verständlichen Gründen von sich aus keinerlei Interesse an derlei Inhalten haben, gerät ein sogenannter Wilder in dieses so perfekt funktionierende System aus Konsum, Indoktrination und Konditionierung und droht nach einem kurzen Liebäugeln mit den Errungenschaften dieser Gesellschaft diese nachhaltig zu gefährden.

Denn im Jahr 632 nach Ford sieht die Welt anders aus: Die Menschheit ist aufgeteilt in eine zivilisierte Mehrheit und einige wenige antisoziale Wilde, die in streng abgeschotteten Reservaten am Rande der Zivilisation leben. Innerhalb der zivilisierten Gesellschaft gibt es 5 Klassen (α, β, γ, δ und ε), wobei die Elite der Mächtigen, die Alphas, und die unterste Schicht der mehr oder weniger debilen Epsilons die willfährig arbeitende "Mittelschicht" umschließen. Das soziale Gefüge, in dem jeder im Rahmen seiner auch noch so bescheidenen Fähigkeiten nützlich zu sein hat, basiert auf diversen Grundsätzen, die ein für alle lebenswertes und zufriedenes Leben garantieren. So besteht z.B. eine allgemeine Pflicht zu permanenter Vergnügung und Konsum (Konsum von Gütern und Menschen; kein Individuum darf sich dem gegenseitigen Miteinander entziehen und muß für alle seine Mitmenschen prinzipiell in jeder Hinsicht verfügbar sein), Gefühle sind unerwünscht und wurden der Menschheit auch erfolgreich abtrainiert, ein totales Empfängnisverbot wurde zu Gunsten einer durch die Alphas gesteuerten künstlichen Befruchtung verhängt, die Embryonen werden im Hinblick auf erwünschte Standards "normiert". Der offizielle Wahlspruch des Weltstaats lautet "Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit".

All diese Regeln werden den Menschen von Kindesbeinen an durch permanente Berieselung mit unterschwelligen Slogans selbst im Schlaf "eingehämmert" ("Jeder ist heutzutage glücklich!", "Arbeite – verdiene – kaufe!", "Jeder ist seines Nächsten Eigentum!" oder "Tue gern, was du tun mußt!" beispielsweise) und für ein stetiges Anhalten des Wohlfühlpotentials sorgt die gesetzlich verordnete und gratis abgegebene Droge Soma ("alle Vorzüge des Christentums und des Alkohols ohne die Nachteile"). Niemand denkt ernsthaft daran, diese universell gültigen Regeln in Frage zu stellen, da er genau weiß, daß es für ihn das Ende seines – vermeintlichen - Wohlbefindens und eine Verbannung in die Reservate zur Folge hätte. Oder besser gesagt: Niemand ist überhaupt mehr in der Lage, ernsthaft nachzudenken angesichts eines perfide ausgefeilten Konditionierungsprogrammes, synthetischer Dauermusikberieselung und unablässiger Vergnügungen.

In dieses Szenario verschlägt es John, einen "edlen" Wilden, der mit seinen Vorstellungen von Freiheit, Wahrheit, Kultur und Spiritualität, die er in der Abgeschiedenheit der Reservation (und unter dem Einfluß von Shakespeares gesammelten Werken) entwickelt hat, natürlich im weiteren Verlauf der Handlung scheitern muß. Anfangs noch als Attraktion bewundert und gefeiert stößt er schnell an seine Grenzen. Gerade dann, als er sich in seine Mentorin Lenina verliebt, eine linientreue Assistentin der Normierungsbehörde, die seine Gefühle auch durchaus erwidert, aber eben nicht aus ihrer Haut kann, muß er sich seine Chancenlosigkeit innerhalb dieses Systems eingestehen, und als auch noch ruchbar wird, daß er der verheimlichte Sohn eines der Systemgewaltigen ist, dämmert einem allmählich, daß es außer Flucht oder Tod keine Alternative für John geben kann. Etwa ab hier weichen dann Buchvorlage und Film voneinander ab: Während im Roman relativ viel Zeit darauf verwendet wird, die aussichtslose Position des Wilden zwischen den beiden Kulturen zu beschreiben, findet dieser Umstand im Film kaum Berücksichtigung, und so gerät dessen filmisches Schicksal eher zu einer vom Zufall gelenkten Nebensächlichkeit. Im Film ist Lenina die Hauptfigur, die in Anbetracht des Erlebten nun ihrerseits beginnt, die schöne neue Welt zu hinterfragen, und als sie wider alle Regeln auch noch schwanger wird, entscheidet sie sich bewußt gegen Käuflichkeit und schönen Schein und ist bereit, die Konsequenzen zu tragen. Schön weitergesponnen, aber halt nicht Huxley, sondern Hollywood!

Wie bereits eingangs angesprochen (und abgesehen davon, daß die Ausstrahlung von Geklonte Zukunft auf RTL für mich eine geradezu köstliche Ironie darstellte): In den knapp 90 Minuten der Filmhandlung blieb ein Großteil der tiefsinnigen Betrachtungen Huxleys leider auf der Strecke, und der ein oder andere Handlungsstrang fiel dem Medium Film und dessen nicht nur zeitlichen Limitierungen zum Opfer oder wurde nur rudimentär angedeutet. Gerade die ausführlichen Schilderungen der schönen neuen Welt aber und ihres dogmatischen Unterbaus, die in Huxleys Roman allein gut die Hälfte des Umfangs einnehmen, blieben bei dieser Verfilmung mehr oder weniger auf der Strecke, und auch der ein oder andere für die Originalhandlung unabdingbare Charakter, wie z.B. der infolge einer mangelhaften Normierung stets zweifelnde, unangepaßte Bernard Marx, ein Alpha-Mitarbeiter der Normierungsbehörde, durch dessen Vergeltungsplan die Handlung eigentlich erst ins Rollen kommt, wurde weggelassen. Dies ist umso bedauerlicher als durch dessen Verhalten die Außenseiterrolle des Wilden eigentlich erst so richtig faßbar wird, sitzen doch beide gewissermaßen zwischen allen Stühlen. Und der dadurch in der Romanvorlage entstehende Hoffnungsschimmer, daß auch dieses ach so perfekte System angreifbare Schwachstellen hat, fällt von daher zwangsläufig bei der Verfilmung fast komplett weg. Er wurde zwar durch den "neugestalteten" Schluß etwas kompensiert; hat man aber Huxley gelesen, "weiß" man, daß Lenina "nur" ein naives Gamma-Mädel ist, das im Rahmen des Systems zu derlei Revoluzzertum gar nicht fähig sein kann.

Selbst wenn es heute kaum mehr nachvollziehbar ist (und durch den Film auch nicht herausgearbeitet werden konnte): Ursprünglich war Brave New World als Satire konzipiert! Veranschaulicht wird dies unter anderem durch die Vielzahl von Anspielungen auf historische Persönlichkeiten und von in die Ford-Zeit übertragenen Namen von allseits bekannten Gebäuden oder sonstigen Sehenswürdigkeiten. Auch die Sprache Huxleys läßt bei aller Ernsthaftigkeit doch immer wieder ein Augenzwinkern erkennen, so daß von daher die Lektüre des Romans, der inzwischen längst bei diversen Verlagen als Taschenbuch erschienen ist, angesichts der offensichtlichen und unverkennbaren Parallelen zu unserer tatsächlichen heutigen Wohlstandsgesellschaft uneingeschränkt empfehlenswert ist.

In der mir vorliegenden deutschen Fassung (Fischer Verlag 1973) hat sich leider der Übersetzer etwas zu viele Freiheiten herausgenommen, insbesondere was Namen und Schauplätze betrifft; ein gelegentlicher Abgleich mit einer englischen Ausgabe hat mich hier schlauer gemacht... Ich denke aber, daß diesem Manko bei neueren Auflagen anderer Verlage inzwischen abgeholfen worden sein dürfte.

Huxley selbst kam übrigens kurz vor seinem Tod im Jahre 1963 in Brave New World Revisited im Hinblick auf den sich immer rasanter vollziehenden Wandel der gesellschaftlichen Entwicklung zu der Schlußfolgerung, daß "sozialer und technischer Fortschritt und verfeinerte Methoden der psychologischen Manipulation erwarten lassen, daß sich diese grausige Voraussage in einem Bruchteil der veranschlagten Zeitspanne verwirklichen" würde.

Für all diejenigen, die sich noch etwas eingehender mit Huxleys visionärem Denken und seiner fundierten Gesellschaftskritik befassen wollen, sei hier abschließend auf ein dreibändiges Essaykompendium verwiesen, das unter den Titeln Streifzüge, Form in der Zeit und Seele und Gesellschaft 1994 zu dessen hundertstem Geburtstag vom Piper Verlag herausgegeben wurde. Ein größtenteils kurzweiliges, nichtsdestotrotz aber äußerst gehaltvolles Vergnügen.

 

- Klaus - 01/08