Zur Rubrik "Bewegte Bilder"
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23 - Nichts ist so wie es scheint

BRD 1998
Regie: Hans-Christian Schmid
Darsteller: August Diehl, Fabian Busch, Dieter Landuris u.a.
Musik: Deep Purple, Killing Joke, Ton Steine Scherben u.a.

Die 80er Jahre in Deutschland - das war unter anderem: Helmut Kohl, Atari, NDW, Dieter Thomas Heck, Commodore C 64, Privatfernsehen, Nena, Friedensbewegung, Heimcomputer, BTX, Ed von Schleck, YPS, Herbert Grönemeyer, Das Boot, Formel Eins, Die Grünen, Schimanski, Waldsterben, Franz Josef Strauß, Geigerzähler, Ostermärsche, Wunschfilm im ZDF, Wackersdorf, indizierte Ärzte-Platten, geistig-moralische Wende, Tschernobyl.

Auch wenn jeder seine eigenen Erinnerungen an dieses seltsame Jahrzehnt hat, scheinen bestimmte Begriffe und Schlüsselereignisse im kollektiven Gedächtnis haften geblieben zu sein. Dazu gehört auch das erste Auftauchen futuristischer Maschinen mit dem schönen Namen "Heimcomputer" in deutschen Kinderzimmern. Daß man mit einem C 64 auch noch etwas anderes anstellen konnte außer das berühmt-berüchtigte Game "Commando Libya" zu spielen (natürlich erst ab 18) oder bei "Summer Games" - ersatzweise auch "Winter Games" - seine Joysticks zu ruinieren, führt uns zu einem der besten deutschen Kinofilme der ausgehenden 1990er Jahre.

23 basiert auf der Lebensgeschichte des Computer-Hackers Karl Koch, der gemeinsam mit einigen Mitstreitern weltweit in Datennetze einstieg. Das auf diesen Streifzügen erbeutete Material wurde an den KGB weiterverkauft. Aus der Anti-AKW-Bewegung kommend, entwickelte der sensible Schüler schnell ein waches Bewußtsein für die Chancen und Risiken der neuen Technik.

Mit dem Wissen, daß von jetzt an gerade der Besitz oder eben das Nicht-Haben von Informationen immer wichtiger sein wird, will der junge Hacker in einer Zeit, die von Aufrüstung, von Pershing 2 und SS 20 geprägt ist, mit seinen Aktivitäten einen Beitrag zum Weltfrieden leisten, indem er (so sein idealistisches Wunschdenken) geheimes Wissen aus dem Westen an den Ostblock liefert, um so ein Gleichgewicht an Informationen herzustellen.

Klingt naiv, spiegelt aber die Stimmung der frühen 80er Jahre wider, als sich ein Hacker nicht dazu berufen sah, vorrangig kriminelle Ziele zu verfolgen, etwa ein reines Zerstören von Daten. Durch die Aktionen der Hacker sollten einer Gesellschaft, die das neue Zeitalter erst zu überblicken begonnen hatte, die Risiken der Computertechnik aufgezeigt werden - wenn auch mit teils illegalen Mitteln. Eine Vereinigung wie der "Chaos Computer Club" spielte bei dem Versuch, diese "Hacker-Ethik" in der öffentlichen Diskussion zu bewahren, eine wichtige Rolle.

Karl Koch entwickelt neben seinem Sendungsbewußtsein aber noch eine weitere Obsession: Durch den Roman "Illuminatus" von Robert Anton Wilson steigert er sich immer mehr in die Vorstellung hinein, die Welt würde von Geheimbünden gelenkt, welche die Politik in ihrem Sinne beeinflußten. Karl verfällt geradezu in einen Verfolgungswahn, als er auf den Reisen durch die Datennetze ständig neue Indizien für seine Verschwörungstheorien zu entdecken glaubt ...

Regisseur Hans-Christian Schmid gelingt es außerordentlich geschickt, diese Dinge im Film auch für Nichteingeweihte verständlich zu umreißen, ohne den Zuschauer mit schier endlosen Spekulationen zu überfrachten. Gerade im Internet unserer Tage blühen solche Theorien natürlich in besonderer Weise, da stärker noch als damals in den 80ern eine internationale Vernetzung mit anderen Gleichgesinnten möglich ist. Dank DSL-Modem, schneller Übertragungsraten und kostengünstig verfügbarer Technik für jedermann ist auch kein technischer Pioniergeist mehr vonnöten.

Die magische Zahl für Karl Koch ist die 23, die er immer wieder in Zusammenhang mit Attentaten und anderen wichtigen politischen Ereignissen seiner Zeit auftauchen sieht. Dabei spielt nicht speziell nur diese Zahl, sondern die Vorstellung einer verschwörungsartig gesteuerten Welt eine Rolle. Die selektive Wahrnehmung, mit der er sich auf alle Dinge konzentriert, die damit in Verbindung stehen könnten, treibt Karl in eine zunehmend paranoide Stimmung.

Wer die 80er Jahre bewußt verfolgt hat oder als Kind darin aufgewachsen ist, wird vieles aus dem Film als Teil seiner eigenen Erinnerung wiedererkennen. Das Gute an 23 ist dabei, daß Requisiten und Dokumente nicht in Form einer oberflächlichen Retro-Kulisse auftauchen, sondern als beiläufiges Zeitkolorit eingesetzt werden. Ihre Funktion ist darauf konzentriert, die politisch-gesellschaftliche Stimmung, in der sich Karl Koch bewegt, wiederzugeben und man muß Hans-Christian Schmid zugestehen, daß ihm dies meisterhaft gelungen ist.

So fährt die Kamera am Anfang durch Karls Zimmer, das mit unzähligen Zeitungsartikeln und Notizen gespickt ist: Bilder von Pyramiden (Symbol der Freimaurer) sehen wir da, Fotos von Kohl, Reagan und Strauß, SPIEGEL-Berichte aus jener Zeit, Waldsterben, SDI und Tschernobyl, Anti-AKW-Demos. Auf der Tonspur liegt das wunderbar stimmungsvoll eingesetzte Stück "Child in time" von Deep Purple, das im ersten Reflex vielleicht als zeitlich unpassend erscheinen mag, schließlich stammt es ja schon aus den Siebzigern.

Diese Einschätzung unterliegt aber dem Irrglauben, daß z.B. ein Film, der im Jahr 1985 spielt, in seiner Ausstattung (Kleidung, Wohnungseinrichtungen, Autos, Musik etc.) in allen Belagen auch dieser Zeit entsprechen sollte. Ein grundlegender Irrtum, denn nicht jeder fuhr damals ein Auto, das maximal ein Jahr alt war, oder lebte in einer komplett neu eingerichteten Wohnung. Stimmig werden Szenenbild und Ausstattung erst dann, wenn sie den Charakteren und deren Lebensumgebung im Film eine auch individuell gewachsene Geschichte vermitteln können.

Das Brillante an 23 ist, daß es dem Film sofort gelingt, den Zuschauer in die Welt des Karl Koch zu ziehen und begreiflich zu machen, daß dieser kein weltabgehobener Spinner war, sondern sich in einer Welt bewegte, die er als bedroht und nur mit einem sehr labilen Gleichgewicht versehen empfand. Sehr gelungen ist beispielsweise die Überblendung des letzten Zeitungsartikels im Vorspann, der über eine Demo in Brokdorf berichtet, auf die echten Aufnahmen der damaligen Polizeieinsätze, denen dann die nachgestellten Passagen mit den Darstellern folgen.

Mit wenigen Einstellungen, Zeitungsartikeln und Fotos vor Augen sind sie plötzlich wieder da, die politischen Ereignisse der 80er Jahre. "Reagan: `Wir schießen zurück´" lautet eine Überschrift im SPIEGEL und es ist einem fast wieder so mulmig zumute wie damals, als die USA unbedingt ihr SDI haben wollten, im Fernsehen "The day after" lief und es Europa-Landkarten gab, auf denen nicht die größten Städte, sondern Raketenstandorte verzeichnet waren.

"Es ist vielleicht nicht ganz einfach, einem heute 16jährigen, der erst geboren wurde, als der Reaktor von Tschernobyl in die Luft flog, heute die Stimmung jener Zeit zu vermitteln, da ihm das eigene Erleben fehlt" - dieser Satz stand hier in der ersten Version dieses Textes im Februar 2002. Jetzt, im Jahr 2011, sieht das nach der Fukushima-Katastrophe ganz anders aus, wobei es besser gewesen wäre, den Text wegen dieser Stelle nicht umschreiben zu müssen ... Plötzlich sind die gleichen News wie damals wieder da: Radioaktive Verstrahlung einer ganzen Region, massiv belastete Lebensmittel und unfähige AKW-Betreiber, die zu vertuschen suchen, was diesmal jedoch dank des Internet jeder auf dem Monitor seines Computers sehen oder zumindest erahnen kann.

Das Anliegen von Karl Koch und anderen Hackern, etwas zum Weltfrieden beizutragen, mag aus heutiger Sicht utopisch erscheinen, unglaubwürdig ist es wohl nicht. Der Film nimmt seine Figuren ernst und gibt sie nicht der Lächerlichkeit preis, indem er Karls Paranoia nicht etwa als reine Spinnerei abqualifiziert. Losgelöst vom anfangs zu vermutenden Hackerkrimi geht es hier im Grunde eigentlich um das tragische Schicksal eines Menschen, der irgendwann einfach nicht mehr anhalten konnte und sich ins eigene Verderben stürzte, ohne daß ihm zur richtigen Zeit wirklich geholfen wurde - falls dies überhaupt möglich war, denn Freunde bemühten sich ja sehr um ihn.

August Diehls Darstellung des Karl Koch ist schlicht großartig, aber auch die übrigen Darsteller wie Fabian Busch, der Karls Freund David spielt, halten das hohe Niveau problemlos. Wer eine exakte Rekonstruktion der damaligen Geschehnisse erwartet, wird allerdings damit vorlieb nehmen müssen, daß manches gerafft oder dramaturgisch umgebaut wurde. Eine 1:1-Nacherzählung ist 23 nicht, zumal sich gerade um den Tod von Karl Koch eine Menge Spekulationen ranken, die bis heute nicht geklärt wurden. Der Film hält sich hier zurück und begnügt sich mit einer kurzen Schlußnotiz, wie das Leben des Karl Koch im Mai 1989 zu einem jähen Ende kam.

Zum besseren Verständnis: Nachdem Karl Koch und seine Hackerkollegen immer weiter in geschützte Datenbereiche eindringen, beginnen sich nun auch unter anderem die Nachrichtendienste für die Aktivitäten der noch unbekannten illegalen Besucher zu interessieren. Durch seinen Drogenkonsum und die zunehmende Beschäftigung mit Theorien zu geheimen Organisationen, die Attentate planen und die Wirtschaft lenken, scheint in Karls Gehirn etwas irreparabel durcheinander zu geraten. Er hat Halluzinationen und Wahnvorstellungen, die ihn bis in die Psychiatrie bringen, wo ihm jedoch nicht geholfen wird, sondern nur medikamentöse Ruhigstellung erfolgt.

Karl scheint trotzdem ein wenig Tritt zu fassen und findet einen Job, der seinem Leben wieder etwas Ordnung zurückgeben könnte. Da er sich aber den Behörden gestellt hat und der KGB-Hack auffliegt, sind für Karl keineswegs ruhigere Zeiten angebrochen, denn nun steht er wie die anderen Beteiligten im Licht der Öffentlichkeit. Am 23. Mai 1989 bricht Karl Koch zu einer Dienstfahrt auf, von der er nicht mehr zurückkehrt. Außerhalb von Hannover wird dann später seine verkohlte Leiche gefunden, offizielle Todesursache: Selbsttötung durch Verbrennen.

Dieses Ermittlungsergebnis wird aber teilweise angezweifelt, da einige Umstände mysteriös blieben und die Suizid-These nicht vollkommen bestätigt werden konnte. Bis zum heutigen Tag halten sich vielleicht ernstzunehmende Vermutungen, daß Karl Koch einem Anschlag zum Opfer fiel. In wirklich bitterer Ironie der Geschichte hält selbst sein Tod auch für die "23"-Theorie neue Nahrung bereit: Karl Koch verschwindet am 23. Tag des Monats Mai. Die Quersumme von 23 ist 5 und der Mai der fünfte Monat des Jahres. Karl Koch wird 23 Jahre alt. Reiner Zufall? Oder ein letzter absichtsvoller Akt? Dies wird vermutlich nie völlig geklärt werden können.

23 ist ein sehr sehenswerter Film, zu dem auch ein unverzichtbares Begleitbuch erschienen ist, das die Geschichte des echten Karl Koch und somit auch die Entstehung des Films durch lange Gespräche mit Freunden und Wegbegleitern nachzeichnet. Ein interessantes Interview mit dem Regisseur und dem Produzenten vermittelt über den Film hinaus wichtiges Hintergrundwissen. Das Buch scheint zwar vergriffen zu sein, ist aber z.B. bei Amazon immer noch zu zivilen Preisen zu finden.

Im Internet findet man auch die Dokumentation der Freunde, die nach Karl Kochs Tod herausgegeben wurde. Sie ist in der Zwischenzeit virtuell umgezogen, der unten angegebene Link wurde aktualisiert. Auch hier gilt: Wer sich für Karl Koch interessiert, sollte diese Textsammlung nicht verpassen. Viel Stoff zum Lesen, sehr nachdenkenswert. Die musikalisch veränderte DVD-Erstauflage mit einem anderen Eröffnungsstück (kein "Child in time") dürfte heute eine richtige Rarität sein, während die Auflage mit dem roten DVD-Logo rechts unten auf dem Frontcover die richtige Version darstellt und somit auch musikalisch der Kinofassung entspricht.

- Stefan - (Original: 2/2002, überarbeitet 7/2011)