(1988)
Als
Queensryche-Fan hatte man es in der jüngeren Vergangenheit nicht gerade
einfach: Neben personellen und musikalischen Turbulenzen und einer ziemlich
unspektakulären Deutschland-Tour Anfang 2000 gipfelte die Enttäuschung
der Fanschar wohl im unlängst geäußerten Bekenntnis des neuerdings
kahlgeschorenen Leadsängers Geoff Tate, er habe sich und die Band eigentlich
nie im Heavy Metal-Kontext gesehen und sei höchstselbst vielmehr durch
Bands wie Depeche Mode oder die Thompson Twins (!) zur Musik gekommen.
Und dies alles zu einem Zeitpunkt, an dem die Band wieder einmal am Scheideweg
steht: Nach drei nur mäßig erfolgreichen, weil nach Fanmeinung musikalisch
unausgegorenen, Alben und dem Hickhack um Gitarrist und Gründungsmitglied
Chris de Garmo (Isser nun wieder mit dabei? Und wenn ja: Als vollwertiges Mitglied
oder nur als Gast?), steht wieder einmal die Veröffentlichung eines neuen
Werkes bevor. So weit, so gut. Doch als im Vorfeld bekannt wurde, "Tribe" beinhalte
keinerlei Gitarrensoli, sei musikalisch am ehesten mit "Promised Land" vergleichbar,
und überhaupt seien die "Operation: Mindcrime"-Zeiten ein für allemal
vorüber, erhitzten sich die Gemüter erneut.
Grund genug, das Phänomen "Operation: Mindcrime" im Rahmen dieser Rubrik
noch einmal Revue passieren zu lassen.
Was eigentlich macht die Faszination dieses in der Folgezeit oft kopierten,
doch nie wirklich erreichten Albums aus, wenn man einmal davon absieht, daß
es zum Zeitpunkt seines Erscheinens 1988 in puncto Songwriting, Arrangements
und Produktion nahezu alles bisher dagewesene in den Schatten stellte?
Zum einen handelt es sich musikalisch gesehen um ein grandioses Machwerk mit
eingängigen Melodien und Hooklines, getragen von einer einzigartigen Atmosphäre,
das von Bombast bis hin zu fetten Riffs in etwa die gesamte Bandbreite des 80er
Jahre Mainstream-Metal umfaßt. Zum anderen ist da der geradezu magische
Hörspielcharakter des Ganzen, der mit Dialogen, Geräuscheffekten und
musikalischen Intermezzi die intelligent konzipierte Handlung perfekt transportiert
und der den konzentrierten Hörer - geleitet von einem charismatischen Geoff
Tate - in ein Wechselbad der Gefühle stürzt.
Los geht es mit I remember now, einer Hörspielsequenz, die in Form
einer Rückblende die zurückkehrende Erinnerung des Protagonisten Nikki
an das nun folgende illustriert.
Allmählich setzen dezent-bedrohliche Keyboardklänge ein, und eine
schrille Leadgitarre eröffnet Anarchy-X, ein kurzes metallisches
Intro, das durch die Geräuschkulisse im Hintergrund Assoziationen an die
Reichsparteitage weckt.
Revolution calling, der erste "richtige" Song, besticht durch ein knackiges
Metalriff, mechanisch klingende Drums und melodische Leadgitarren. Die perfekte
musikalische Umsetzung der Ausgangssituation der Story: Nikki, perspektiv- und
illusionslos, fühlt sich betrogen von der macht-, geld- und sexbesessenen
Gesellschaft. Religion, Politik und die Medien haben sein Vertrauen zerstört,
und er gerät an Dr. X, der einen terroristischen Umsturz plant.
Nikki tritt dessen Untergrundbewegung bei, wird mittels Drogen auf Kurs getrimmt
und erfährt seine künftige Bestimmung als Killer. Operation: Mindcrime,
der Titelsong, setzt dies stark rhythmisch um und erinnert darüber hinaus
leicht an Judas Priest.
Speak beginnt ziemlich hektisch und basiert auf Stakkato-Rhythmusgitarrenlicks.
Ein feiner Metalsong, der Dr. X´s Sendungsbewußtsein als neuer Messias
veranschaulicht. Er verkündet den Beginn einer neuen radikalen Ordnung
mit dem vorgeblichen Ziel, den Armen und Schwachen Gerechtigkeit zu verschaffen.
In Spreading the Disease wird Sister Mary vorgestellt, eine ehemalige
Nutte, die in der Organisation als eine Art Heilige fungiert, die allerdings
auch hier die Beine breit machen muß, und zwar für den Priester Father
John, den Chefideologen der Verschwörung. Der Song, ein flotter Heavyrocker,
stellt musikalisch das erste Highlight der Platte dar und lebt von einem faszinierenden,
sehr technischen Drumbeat. Nach einer weiteren Anprangerung gesellschaftlicher
Mißstände sowie der Manipulation der Menschen durch Politik und Wirtschaft
folgt der balladeske Anfang von The Mission. Der Song steigert sich schnell
zu einem fast schon marschmusikartigen Rocker mit hymnischem Refrain und bietet
textlich so etwas wie eine Zusammenfassung der Charaktere im Rahmen der Handlung
und der psychologischen Hintergründe. Nikki bekommt Zweifel an seiner Mission
und verliebt sich in Mary, die als einzige seine Schuldgefühle zu lindern
versteht.
Suite Sister Mary beginnt mit Dr X´s Aufforderung an Nikki, Mary und
den Priester zu eliminieren. Ein anfangs düster-beklemmendes Opus, das
sich im Laufe von fast 11 Minuten über dramatische, an die "Omen"-Trilogie
erinnernde Chöre hin zu einem furiosen Höhepunkt steigert. Es entwickelt
sich ein verzweifelter Dialog zwischen Nikki und Mary (eindrucksvoll verkörpert
von Pamela Moore). Sie fühlen sich benutzt und schuldig, und Mary verlangt
von Nikki, sie zu töten, was ihr dieser aber verweigert und statt dessen
die Ereignisse aufhalten will.
Es folgt mit The Needle lies ein hektischer Rocksong. Nikki ist von den
ihm verabreichten Drogen abhängig geworden und muß sich seine Machtlosigkeit
eingestehen.
Das Electric Requiem, ein stark an das Vorgängeralbum "Rage for
Order" erinnerndes technisches Intermezzo, leitet das Finale ein: Mary hat sich
umgebracht (mit einem Rosenkranz erhängt, wie man später erfahren
wird), und auch Nikki will nicht mehr leben.
In Breaking the Silence, einem weiteren schwermetallischen Highlight
des Albums, betrauert Nikki Marys Tod. Er fühlt sich leer und zerrissen,
ist erfüllt von Haß und Furcht, und schließlich ertönt
ein Stimmengewirr, das ihn fast zum Wahnsinn treibt.
Die Spannung entlädt sich in I don´t believe in Love, dem musikalischen
Sahnestück von "Operation: Mindcrime": Rockig und ultramelodisch mit einem
Weltklasserefrain. Wie der Titel schon andeutet hat Nikki mit Marys unrühmlichem
Abgang nun auch den Glauben an die Liebe verloren. Vollkommen desillusioniert
wird er verhaftet und beteuert verzweifelt seine Unschuld an Marys Tod.
Nach Waiting for 22 (Catch 22?), einem überleitenden Gitarrengeplänkel,
folgt mit My empty Room ein weiteres kurzes Intermezzo, das durch die
tickende Uhr im Hintergrund eine gewisse Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck bringt,
bevor das Werk seinen krönenden Abschluß im melodischen, mit schönen
Gitarren veredelten Eyes of a Stranger findet. Nikki sitzt in der Nervenklinik
und beklagt sein Schicksal. Verfolgt von den Geistern der Vergangenheit stellt
er alles in Frage und erkennt, daß sich niemals wirklich etwas ändern
wird. Mit den Worten "I remember now" schließt sich der Kreis zum Anfang
des Albums.
Hmm, woran erinnert einen das bloß? Genau: Auch wenn es sich hier um ein
fiktives Werk mit etwas oberflächlichen Einblicken in die Abgründe
handverlesener einzelner Individuen handelt (hier haben Pink Floyd mit "The
Wall" die Nase vorn), läßt sich das Konzept ohne größere
Schwierigkeiten auf die moderne Gesellschaft übertragen. Angefangen von
unreflektierter Medien- und Autoritätenhörigkeit über spirituelle
Inhaltslosigkeit bis hin zur bereitwilligen Selbstaufgabe für Blender und
die totale Manipulierbarkeit durch Demagogen gleich welcher Couleur, zeichnet
"Operation : Mindcrime" ein erschreckendes Abbild des immer weiter fortschreitenden
Werteverfalls der zivilisierten Welt. Die augenfälligen Parallelen zu Nazi-Deutschland
oder George Orwells 1984, die durch das zwar schlichte, aber nichtsdestotrotz
kongeniale Coverartwork noch verstärkt werden, zeigen überdeutlich,
daß sich an den Mechanismen der Macht im Grunde niemals wirklich etwas
ändern wird: Manipulation und willkürliche Machtausübung zielen
auf die Orientierungslosigkeit des Einzelnen in einem von Unsicherheit und Angst
geprägten gesellschaftlichen Gesamtkontext vor als unbeeinflußbar
oder undurchschaubar wahrgenommenen politischen und wirtschaftlichen Strukturen.
Soweit die Analyse eines Jahrhundertwerkes.
Auch wenn Queensryche - zwangsläufig - mit keinem folgenden Album mehr
an diese Klasse anknüpfen konnten, sollte man als Anhänger der Band,
die objektiv betrachtet wohl immer noch dem progressiven Rocksektor zuzurechnen
ist, aufgeschlossen genug sein, um über seinen musikalischen Tellerrand
hinauszublicken. Dies ist der einzige wirkliche Anspruch, den die Band an sich
und ihre Fans stellt, und Progressivität im eigentlichen Sinne ist nun
einmal das genaue Gegenteil von Stagnation und dient dem Fortschritt und der
Weiterentwicklung. Also: Scheuklappen beiseite legen, auch mal die Lyrics der
Band auf sich wirken lassen und sich vor diesem Hintergrund die ungeliebten
Queensryche-Scheiben wie z.B. "Hear in the Now Frontier" neu erschließen.
Dann klappt´s auch mit dem neuen Album!
- Klaus - 07/03