"Any attempt to reproduce these musical statements in our own words is
necessarily doomed to failure."
(Aldous Huxley)
Ein wilder Ritt durch die Ewigen Jagdgründe der Pop-Musik
Teil 4
***** THERION - Sitra Ahra ** Bemerkenswert, zu registrieren, wie
Formationen und Künstler die vor zehn, fünfzehn Jahren noch unangezweifelt
zu meinem Favoriten gehörten, heutzutage irgendwie überhaupt nicht
mehr gehen. Gandalf, Kitaro, Eloy, Ayreon bespielsweise kann ich kaum bis
gar nicht mehr auflegen, und der Stoß meiner gollumhaft gehüteten
vier Pendragon Alben machte sich kürzlich ohne die geringste nostalgische
Rührung in Richtung Schweden auf und davon. Inzwischen habe ich einen
ordentlichen Teil meiner ursprünglichen, innerhalb von mehr als 20 Jahren
zusammen getragenen LP-, und CD-Sammlung über EBAY vertickt oder vereinzelt
an Bekannte und Freunde weitergegeben. Die Gründe hierfür sind mehrschichtig:
MP3 als dominierendes Audioformat, ein durch inzwischen vier Jahre Internetzugang
wesentlich vergrößerter musikalischer Horizont, Verschiebung stilistischer
Präferenzen, verstärktere allgemeine Hinwendung zu natürlicheren
Ausdrucksformen. Wobei hier ein Aspekt in den anderen übergeht, alle
miteinander verwoben sind. Zwei Dinge lassen momentan besonders den Pegel
des Widerwillens ausschlagen, nämlich Kitsch und Theatralik.
Womit wir ohne weitere Umwege beim neuen Werk von Therion angelangt wären.
Es ist in der Tat kaum zu ertragen, was hier an schwülstigem Bombast
aufgefahren wird. Das instrumentelle Gerüst aus Klassik- und Metal-Elementen
ist noch halbwegs vertretbar, wenn auch schwerlich (neue) Akzente setzend.
Die exaltierten Chöre und indisponierten Lead-Stimmen sind die eigentliche
Katastrophe. Das klingt alles so furchtbar gekünstelt, gezwungen auf
dramatisch und hymnisch gebürstet, so, so .... falsch. Und dieser
gruselige Singsang ist verschärfenderweise auch noch nahezu omnipräsent.
Kaum eine gelungene instrumentale Brechung welche für ein wenig Erleichterung
sorgte. Das gesamte Album und seine transportierten Inhalte sind so unecht
und hohl wie ein Plastikweihnachtsmann. So unplakativ, unaufdringlich und
aufrichtig wie ein fettes Werbe-Pop-Up.
So, dies gesagt, schaue ich gleich mal, was mir heute die Periode von 1998
bis 2004 für einen Eindruck vermittelt. Hm, ja, tatsächlich, geht
noch. Gar nicht so schlimm, wie ich nach der Erduldung des neuen Albums dachte.
Nach wie vor durchaus genießbar.
Abschließend sei die last.fm-Shoutbox, in welcher die gegensätzlichen
Meinungen zu Sitra Ahra sich auf unterhaltsame Weise durchmischen,
zitiert: "It's a good thing I stopped caring after hearing Gothic
Kabbalah or I'd be dissapointed as hell with this new monstrosity."
***** JACASZEK - Treny ** Da ich grundsätzlich ein unproduktiver
fauler Sack bin, und es sich zufällig ergab, entlehne ich mir dreisterweise
für diesen Eintrag noch einen weiteren passenden Kommentar von last.fm:
"Wow, what a pleasant surprise! Treny is an excellent blend of dramatic
modern classical music with glitch ambient."
Fantastischer Gesang plus Piano, Cello, Violinen, Harfe und dezent aber effektvoll
eingesetzte Elektronik, erzeugen irisierende, geisterhafte, surreale, wunderschön-schwermütige
Stimmungslandschaften.
***** BRAVEYOUNG - We Are Lonely Animals ** Die Produktion ist zwar
leicht diffus und dumpf, aber das paßt hier sehr gut, erscheint gar
beabsichtigt und zugehörig zu diesem understated und weltüberdrüssig
sich dahinschleppenden Post Rock. Geschmackvoll, atmosphärisch, introvertiert,
vergänglichkeitsgegenwärtig. Mit minimalistischer Effizienz eingesetzte
Gitarren, Violinen, Pianos, Gesänge, Glockenspiele, Effekte, minutenlanges
Mäandern, ein (willen-)losgelöstes Dahinschweben, ein Auf- und Abschwellen,
dann und wann ein träges, unaufgeregtes sich Hineinsteigern in einen
Wall-Of-Sound, fast so, als ob es die Mühe des Aufbegehrens gegen Schwerkraft
und Begrenzung eigentlich nicht lohne.
Wundervoll.
***** BALMORHEA - Live At Sint-Elisabethkerk **
Balmorhea entwerfen poetische aurale Gemälde aus Folk, Country und Klassik.
Geprägt wird das Klangbild vor allem durch Piano, Cello, Violine und
akustische Gitarren. Sporadisch runden Melodica, Banjo und lautmalerischer
Gesang die Klangfarbenpalette ab.
Ich mochte sie schon immer. Sehr sogar. Seit dem noch sehr sparsam instrumentierten,
selbstbetitelten Debut aus dem Jahre 2007.
Endgültig, hemmungslos, rückhaltlos verzaubern konnten sie mich
allerdings erst mit ihrem diesjährigen, einstündigen Livealbum.
Damit sind sie im Zentrum meines persönlichen Musikmultiversums angekommen.
Melancholie, Direktheit, Zurückhaltung, Sensibilität, Dezenz, emotionale
Authentizität, unverstellte Leidenschaft, ein Gefühl für Raum
und Stille. Das sind Begriffe und Umschreibungen, die mir spontan einfallen,
wenn ich an die wesenhaften Charakterzüge dieser Band denke.
Und Intimität. Diese kommt besonders in diesem Mitschnitt eines Konzertes
zutage, das in der im Titel erwähnten Kirche stattfand und welche durch
den weiten Resonanzraum zwischen Instrumenten und dem Gebäude, sowie
dem unmittelbaren Resonanzraum zwischen Musikern und Publikum die Stücke
auf geradezu magische, anderweltliche, und doch zutiefst menschliche Art lebendig
werden läßt. Da fügt sich dann sogar die obligatorische umgekippte
leere Glasflasche, wie bei "Truth" geschehen, harmonisch ins Gesamtbild
ein. :)
Wer dem Besten und Schönsten begegnen möchte, wozu der Mensch in
all seiner hinfälligen Größe, in all seiner kosmischen Verlorenheit,
in all seiner begrenzungsnegierenden Selbstüberschreitung fähig
ist, dessen Chancen stehen ausgezeichnet, an Abenden wie diesem möglicherweise
fündig zu werden.
Die allermeisten anderen Kunsterfahrungen würde ich ohne zu zögern
stehen lassen, für diese erlesene, beispielhaft naturbelassene Stunde
wundervoller Musik.
***** Explosions In The Sky - Take Care Take Care Take Care /// Iron Maiden
- The Final Frontier /// Nevermore - This Godless Endevour /// die letzten
Alben von alten Helden wie Heathen, Overkill, Slayer, Exodus, Megadeth, Kreator,
Candlemass, Vicious Rumors, Hades und überhaupt ganz viiiiielen heutigen
Heavy Metal-Produktionen /// Von Hertzen Brothers - Stars Align /// Gifts
From Enola - Gifts From Enola /// New Model Army - Today Is A Good Day ///
Juno Reactor - Labyrinth /// Saxon Shore - It Doesn't Matter /// Mono -Hymn
To The Immortal Wind /// Maybeshewill - I Was Here For A Moment, Then I Was
Gone /// And So I Watch You From Afar - Gangs /// To Mera - Delusions **
Hier mal nur beiläufig aufgezählt einige mir in letzter Zeit untergekommene
Beispiele von Musik, die mehr oder weniger schwer, die vereinzelt bis hin
zur Unhörbarkeit geschädigt wurde durch übermäßige
Kompression beim Mastering, dem letzten Produktionsschritt der Aufnahme.
Wirklich ein Jammer um diese teilweise exzellenten Kompositionen.
Ich kann da Musiker echt nicht verstehen, die viel Mühe und Kreativität
in ein Album investieren, um es dann am Ende klangtechnisch einzuebnen bzw.
völlig zu zerstören.
Manche heutige Musik fühlt sich an, als ob man gegen eine massive Wand
läuft. Da sind keine Zwischenräume mehr, die Feinheiten sind beschnitten
oder gehen unter, die Dynamik zwischen leise und laut ist nivelliert, Klarheit
und Höhen gehen verloren. Alle Lebendigkeit geht in einem fetten, dissonanten,
mittel- und tieftönenden Klangsumpf unter. Die Töne haben keinen
Raum zum atmen.
Es ist wie eine Seuche!
Dieser "Loudness War" muß enden!
Der Tod des lebendigen dynamischen Klangraumes, ist der Tod der lebendigen
Musikerfahrung!
Nun ja, wer etwa Gifts From Enola, Ironbound oder This Godless
Endevour in angemessener Lautstärke komplett durchhören kann,
ohne anschließend unter Kopfschmerzen zu leiden, dem tut wahrscheinlich
auch sonst nix mehr weh. =)
Besonders ärgerlich fand ich das neue, schwerlich genießbare Werk
von Iron Maiden, die mit dem Vorgänger A Matter Of Life And Death
(nach dem klanglich abgrundtief beschissenen Dance Of Death) doch eigentlich
auf dem absolut richtigen Weg in Sachen Audioqualität gewesen zu sein
schienen. Um dann solch eine den Geist ermüdende, dumpfe, tote Produktion
wie bei The Final Frontier abzuliefern. Traurig. Und dabei so unnötig.
Alben, die so klingen wie die oben genannten, müssen von mehr und mehr
Leuten mit Ignoranz abgestraft, Hörer und Musiker aufgeklärt werden,
damit sich da was zum Positiven ändert. Es müssen mehr öffentliche
Kontroversen stattfinden wie jene 1999 zu Californication, anläßlich
dessen die Problematik, soweit mir bekannt ist, erstmals breit diskutiert
wurde, oder 2008 zu Death Magnetic, als ich schließlich davon
Wind bekam.
Ich hab' mal ein paarTweets zum Thema losgelassen:
http://twitter.com/#!/Hotblack42/status/80532918967091200
&
http://twitter.com/#!/Hotblack42/status/80533299805687808
(Die halbstündige SWR-Sendung kann ich sehr empfehlen, sie enthält
eigentlich alle relevanten Informationen zum Thema.)
Ebenfalls beachtenswert:
http://www.justiceforaudio.org/2008/10/bbc-4-radio-report-on-death-magnetic-sound-issues/
Rushs Vapor Trails bekam für sein zementblockhaftes Mastering
seinerzeit ebenfalls einiges an Haue von den Fans und Kritikern, weshalb ich
mal einen Song daraus als besonders anschauliches, geradezu bizarres Beispiel
posten möchte:
So. Das mußte ich einfach mal loswerden.
Wird mein letzter Rant zu diesem Thema bleiben.
Versprochen.
Eure Meinung würde mich allerdings auch sehr interessieren. Würde
mich freuen, wenn jemand seine Ansicht in den Kommentaren kundtäte.
Das Formlose ist ebenso wichtig wie das Formale. Die Stille bedingt den Klang.
"When there is no quiet, there can be no loud."
***** TANGLED THOUGHTS OF LEAVING - Deaden The Fields ** Durch das
zusammen mit Sleepmakeswaves veröffentlichte Split-Album, welches beide
Formationen in ansprechender Form zeigte, sind sie mir bereits positiv aufgefallen.
Nun also der erste, einstündige Longplayer. Auf Deaden The Fields
machen es diese verrückten Australier sowohl sich selbst, als auch dem
Publikum erwartbar nicht eben einfach. Mit Adjektiven wie "avantgardistisch"
sollte man vorsichtig umgehen, weshalb ich es mir an dieser Stelle vekneife.
Aber sie ist mutig, diese herausfordernde Melange aus wildem, changierendem,
jazzigem Schlagzeug und Piano, aus post-, math-rockigen Gitarrenharmonien
und -aufbauten, verfeinert durch gelegentliche elektronische Noiseattacken
und Glitches, sowie meist unterschwelligen, dann aber immer wieder deutlich
wahrnehmbaren Einwürfen aus Klassik und vor allem Progressive Rock. Diese
Herangehensweise läßt die Band weit abseits jeglicher Genrekonventionen
zum Minoritätenprogramm derer werden, die bereits alles andere gehört
haben. Was gleich und vor allem in der ersten Hälfte der 17minütigen
Eröffnungsnummer "Landmarks" an sprunghaftem Jazz und dekonstruktivistischer
Dissonanz abgeliefert wird, läßt einem erstmal perplex zurück.
Wow, das ist doch mal 'ne Land- bzw. Duftmarke. Im Verlauf des Albums wird's,
bei aller weiterhin gebotenen Komplexität, auch mal geradliniger und
atmosphärischer. "Deep Rivers Run Quiet" etwa scheint sich
in der Weite des australischen Outback zu verlieren, sich beharrlich sein
gewundenes aurales Flussbett durch die rotsandigen, hitzeglühenden Hügel
zu graben, zu schürfen, zu grooven.
Bei aller klangarchitektonischer Abstraktion bleibt die instrumentale Wegstrecke,
welche die Jungs auf Deaden The Fields zurücklegen, eigentlich
stets nachvollziehbar. Die Mitreisenden jedoch einladend, die bekannte Welt
der Harmonieverhältnisse mit veränderten Sinnen wahrzunehmen, ihre
gewohnten Perspektiven der rhythmischen Naturgesetze zu verwirren und zu betören.
Wo allzu viele andere Produzenten die glatte kontrollierte Oberfläche
beschwören, die allenfalls mal durch ein handelsüblich eingestreutes
Solo angekratzt werden darf, planieren Tangled Thoughts Of Leaving immer aufs
Neue alle tonfarbigen oder kompositorischen Jägerzäune die sich
ihnen in den Weg stellen, bulldozern mit Verve und Spontanität alle blockwarthaften
Gartenzwerge nieder. Sie lassen es einfach laufen. Jenseits von übermäßigem
Sicherheitsdenken und Perfektion liegt das magische Land des Unerwarteten,
der rohe Zauber von gerade eben gebändigtem und in kreative Bahnen gelenktem
Chaos. Die Unwägbarkeit der menschlichen Existenz spiegelt sich in den
wechselhaften Aufwallungen, Zusammenbrüchen, Zwischentönen. Das
kreative Schöpfungspotential offenbart sich möglicherweise in einem
einzigen ungeplanten, beiläufigen und doch erregenden Gitarrenfeedback.
Tangled Thoughts Of Leaving halten diesem Erlebnisraum beständig geöffnet.
Wer also der popkulturellen Konfektion überdrüssig ist und nach
anregenden musikalischen Abenteuern dürstet, wer der bekannten Welt eine
aufregend wirkende Spektralverschiebung verpassen möchte, sollte vielleicht
mal in diesem Great Ocean Road Express Platz nehmen. Anschnallen aber bitte
nicht vergessen.
***** DREAM THEATER - A Dramatic Turn Of Events ** Hm. Seltsam. Selbst
das neue Stück des Traumtheaters läßt mich recht unbeeindruckt
zurück. Nochmaliges Schulterzucken bei alten Helden. Woran mag das wohl
liegen..? Brillant gemachtes Album eigentlich, keine Frage. Aber, sorry, ich
finde einfach kaum einen Bezug zu dem, was hier vermittelt werden soll. Alles
ist so verdammt unsubtil, großbuchstabig und offensichtlich. Die dargebotete
Musik hat keinen geheimen Kern, zu dem es vorzudringen gälte oder lohnte.
Sie ist perfekt inszenierte Oberfläche. Darauf und darunter schwelt oder
brennt kaum etwas Rohes, Emotionales, Gefährliches, Erschütterndes,
unperfekt Menschliches. Vielleicht sind die Zeiten für allzu kalkulierten,
hochglanzpolierten, auf hymnische Gefälligkeit getrimmten symphonischen
Bombast für mich, zumindest vorerst, tatsächlich vorüber. Das
hier ist mir bei aller kompositorischen Souveränität und gerne demonstrierter
spieltechnischer Meisterschaft mittlerweile zu aufdringlich, berechnend, risikoscheu.
Mostly Harmless.
***** BARN OWL - Lost In The Glare /// Shadowland ** Wie Grails auf
Pilzen in der Wüste. Wie Ben Frost, Earth, Sunn O))) und der junge Deuter
bei einer zurüchgelehnt-spannungsgeladenen Jam-Session auf einem Hochhausdach.
Wie durch den Kaninchenbau gerutscht und verloren mit Alice umhertaumelnd
im zwielichtigen Drone-Wunderland.
Das ist weltenthobene psychedelische Atmosphäre, das ist durchdringende
Intensität im Spannungsfeld zwischen Beständigkeit und Wandlung,
das ist Überschreitung von Song-, Körper-, Geistesstrukturen! Hier
weist alles über sich selbst hinaus.
Die Scheuneneule ist für mich eine DER Entdeckungen des Jahres. Alles
spätestens ab dem 2008er Werk From Our Mouths A Perpetual Light ist reinstes
Klangkosmonauten-Manna.
Bin mal wieder zu faul, selbst weiterhin nach Worten zu ringen oder gar die
Musik näher zu beschreiben, weshalb ich auf ein anderes Blog verweise,
welches den Job bereits exzellent erledigte:
http://www.thepostrock.de/barn-owl-veloren-im-blendlicht/
- Heiko - 09/2011