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CARCASS - Wake up and smell the carcass
(Compilation-CD/DVD, Label: Earache)

Es gibt Plattencover, die hat man besser nicht allzu offen vorgezeigt, als man noch jugendlich und zu Hause wohnhaft war. Die Leichen-Collagen auf den ersten beiden Alben von CARCASS zählten definitiv dazu. Auch wenn das Material eher einem Hochglanz-Atlas für die Splatter-Fraktion unter den Medizinstudenten entnommen schien und primitive Sudeleien à la "Butchered At Birth" (CANNIBAL CORPSE) eine ganze Ecke geschmackloser waren, stellte der Anblick nicht gerade einen ästhetischen Hochgenuß dar.

Die vorliegende Compilation, mit einer Bonus-DVD wiederveröffentlicht, ziert das Foto des ermordeten John F. Kennedy, den Hinterkopf massiv entstellt. CARCASS hatten nach ihrer Frühphase auch andere Designs, die deutlich stilvoller waren, etwa das 1992er Tourshirt in Rot, so daß dieses Artwork in seiner Drastik doch etwas überrascht. Wobei das Motiv nicht nur aus den rein offensichtlichen, ins Auge stechenden Gründen ziemlich kontrovers ist, sondern auch wegen der historischen Hintergründe. Mehr Infos dazu hier im Earache-Blog.

Musikalisch bilden die 17 Stücke einen Querschnitt durch das gesamte Werk der Briten, wobei das mit Songs geschieht, die nicht einfach von regulären Studioalben gezogen wurden - womit sich der Kauf also auch für Raritätenfreunde lohnt. Die Tracks 1 bis 5 stammen aus den Sessions zum "Swansong"-Album aus dem Jahr 1995. Hier waren CARCASS schon ziemlich melodisch geworden, Anklänge an die Death/Grind-Anfänge finden sich allenfalls noch vereinzelt beim rauhen Gesang. Im Vergleich zu alten Gerumpel-Tagen in den Achtzigern mag das alles recht anspruchsvoll gewesen sein, aber das Material zündet nicht so recht.

Keine allzu große Veränderung findet bei den Tracks 6 bis 9 statt, vielleicht daß diese etwas griffiger sind und der rauhe Sound noch kleinere Reminiszenzen an die Zeit des Zweitwerks "Symphonies of Sickness" aufkommen läßt, wenn die Band am Anfang von "No love lost" kräftig aus dem 89er-Track "Ruptured in purulence" zitiert. Für die eingefleischten Fans dürfte auch dieser Abschnitt interessant sein, handelt es sich doch um eine Radioshow aus dem Jahr 1994. Produziert von einem gewissen Tony Wilson, der allerdings nicht mit dem Begründer von Factory Records identisch ist. Ebenso ist "No love lost" auch keine Joy-Division-Coverversion.

Dieses unveröffentlichte Material zeigt das Problem auf, das zumindest der Verfasser dieser Zeilen mit CARCASS zu diesem Zeitpunkt hatte. Musikalisch gereift war die Band ja, aber wie bei einem Fußballteam, bei dem trotz guter Einzelspieler Sand im Getriebe ist, lösen auch die ersten neun Tracks dieser CD ein unbefriedigendes Gefühl aus. Wie früher, wenn man mit dem knappen Taschengeld eine bestenfalls durchschnittliche LP erworben hatte und beim Schönhören von Stück zu Stück immer noch hoffte, jetzt müsse aber doch mal ein richtiger Knaller folgen. Natürlich kam keiner und 20 Mark waren wieder einmal vom Winde verweht...

Von anderem Kaliber sind die beiden Bonusstücke der "Heartwork"-EP: "Rot ´n´roll" könnte zwar noch besser sein, aber "This is your life" überzeugt auf ganzer Linie. Sauberer, hervorragend produzierter Metal, von Death-Geknüppel keine Spur, eines der Highlights auf der Scheibe! Die Stationen 12 bis 14 entstammen einer weiteren EP: 1991 erschienen, ist "Tools of the trade" zeitlich und soundtechnisch eng mit der dritten LP "Necroticism..." verbunden, wenn auch merklich schneller ausgefallen. Doch daran liegt es nicht, daß diese Tracks um einiges besser abschneiden als das eingangs zu hörende Session-Material der späten Phase - es sind einfach Songs mit mehr Energie statt halb angezogener Handbremse.

Von 1989 stammen die letzten drei Stücke: zwei davon waren auf einem Sampler namens "Pathological" erschienen, das dritte ist die frühe Fassung von "Exhume to consume" (damals vertreten auf dem "Grindcrusher"-Sampler). Der Gesang ist reichlich verwegen und für Schöngeister vermutlich eher undefinierbar, doch wer genau hinhört, wird schon einige gut ausgearbeitete Ideen finden, die zeigen, daß CARCASS mehr konnten als nur fröhlich polternde Rumpel-Sounds, die der Auffälligkeit wegen in farbenfrohen Gore-Collagen verpackt wurden. Textlich dürfte ohne die Hilfestellung durch ein medizinisches Fachwörterbuch nicht viel zu machen sein. Ich stelle mir gerade eine Dichterlesung vor, bei der zu edlem Rotwein und gedämpfter Jazz-Musik einem erwartungsvollen Bildungsbürgerpublikum diese blut- und eiterdurchtränkten Pathologen-Lyrics dargeboten werden – ein Abend unter dem Motto: "Symphonies of Sickness - Roger Willemsen liest Carcass."

Zwiespältig wie mein Eindruck vom Gesamtschaffen der Band ist auch die CD. Die eine Hälfte: Ganz nett, aber sonst? Die andere: Gut bis sehr gut, teilweise beinahe Klassiker, die auch heute noch funktionieren und das absolut ohne Nostalgiebrille. Um die Scheibe attraktiver zu machen, liegt eine DVD (Code 0, NTSC) mit fünf Videoclips und zwei Live-Mitschnitten von 1989 bzw. 1992 bei. Qualitativ sind allerdings gewisse Mängel nicht übersehbar: Beim "Heartwork"-Clip ziehen einige "Läufer" durchs Bild (offenbar wurde hier auf nicht mehr so ganz taufrisches Bandmaterial zurückgegriffen) und bei den Live-Aufnahmen sollte man nicht gerade HD und auch kein Mehrkanal-Soundgewitter erwarten.

Der 1992er-Mitschnitt stammt von der "Gods of Grind"-Tour, die CARCASS zusammen mit ENTOMBED, CATHEDRAL und CONFESSOR absolvierten (auch wenn keine der Band etwas mit Grind am Hut hatte). Sie spielen hier in der Vierer-Besetzung mit Michael Amott (ARCH ENEMY, SPIRITUAL BEGGARS). Sound und Kameraführung gehen in Ordnung, es erwarten einen also keine Bootlegverhältnisse mit Unterwasser-Qualität, festgehalten in bis zu einer Kamera-Einstellung.

Richtig schön Old School wird es bei den Songs, die Ende 1989 in Nottingham mitgeschnitten wurden: Es spielt die alte Dreier-Besetzung der ersten beiden Alben mit Jeff Walker, Bill Steer und Ken Owen (der Jahre später mit viel Glück eine schwere Gehirnblutung überstand). Fürs Auge tut sich nicht wahnsinnig viel auf der Bühne, aber es kann ja nicht jedes Trio eine Show abziehen wie RUSH und wer was zu lachen haben will, der sollte vielleicht doch besser bei MANOWAR vorbeischauen. Qualitativ sind auch diese Aufnahmen brauchbar, wobei es knappe drei Minuten dauert, bis sich der Sound so richtig gefangen hat.

Die abschließende Frage ist: Lohnt sich der ganze Spaß? Für einen Preis von 15 Euro beim örtlichen Drogen-Müller erstanden, ist der Gegenwert auf jeden Fall gegeben und sei es nur der EP-Tracks (gelungen), den alten Songs (relativ selten) und der DVD wegen. Auch wenn mich immer noch das Gefühl beschleicht, daß CARCASS nach teils hervorragender Frühphase ("Symphonies...") und teils sehr gutem Material, welches danach folgte, einem nicht mehr den richtigen Kick verpassen konnten – wobei ich nicht einmal zu sagen wüßte, wie genau der nach "Heartwork" eigentlich hätte klingen sollen. Ein nettes Wiederhören war’s aber auf jeden Fall.

- Stefan - 02/2010