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Kari Bremnes – Svarta Bjørn (1998)

"Svarta Bjørn" ist das erste offiziell in Deutschland veröffentlichte Album von Kari Bremnes, auf die ich eher zufällig durch einen kurzen Artikel in einem der diversen in Plattenläden ausliegenden Gratis-Musikblättchen aufmerksam geworden bin.

Sicher sehr ungewöhnlich und auch interessant ist die Lebensgeschichte, die auf diesem Album nacherzählt wird. "Svarta Bjørn" ("Schwarze Bärin") war der Spitzname einer jungen Frau, die um die Jahrhundertwende Köchin in einem Barackenlager bei Tornehamn am Torneträsk, einem großen See in Nordschweden, war. In diesem Lager lebten Wanderarbeiter, die zu der damaligen Zeit in nur vier Jahren die nördlichste Eisenbahnstrecke Europas von Kiruna nach Narvik fertiggestellt haben. Wenn man mal auf der Landkarte nachschaut und bedenkt, daß vor hundert Jahren die Lebensbedingungen sicher allgemein weitaus schwieriger waren als in unserer heutigen Zeit, kann man sich gut vorstellen, unter welch widrigen und unwirtlichen äußeren Bedingungen die Menschen dort gelebt und geschuftet haben müssen.

Was die Geschichte besonders faszinierend macht und ihr einen gewissen mysteriösen Charakter verleiht, ist, daß sie größtenteils auf mündlichen Überlieferungen in Form von Liedern und Erzählungen basiert, deren Wahrheitsgehalt nicht mehr überprüfbar ist. So schreibt Kari in einer Kommentierung des geschichtlichen Hintergrundes u.a.: "Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob sie diejenige ist, die auf dem Wanderarbeiterfriedhof in Tornehamn unter dem weißen Kreuz mit der Inschrift "ANNA-Norge" begraben ist. Man hat angenommen, sie sei es, die hier liege, aber Todesdatum und Jahreszahl wurden mehrmals geändert. Warum? Ereilte sie ein dramatischer Tod im Alter von 22, nach nur zwei Jahren bei der Bahn? Hieß sie Anne Rebecka Hofstad aus Utskarpen bei Nesna?" Im CD-Booklet ist in der Mitte ein Foto mit der Barackenmannschaft 52 (sehen schon sehr urig aus, die Typen!) und Köchin Anna Rebecka Hofstad im Hintergrund und auf der vorletzten Seite ein Foto des besagten weißen Kreuzes abgedruckt.

Die Texte und die Musik stammen zum überwiegenden Teil von Kari selbst. Die einleitenden Worte zu jedem der 10 Stücke sowie auch die Texte selbst (bis auf drei Ausnahmen) sind aus der Sicht von Anna (=Svarta Bjørn) verfaßt, wodurch man sich besonders gut in sie hineinversetzen kann.

Was die musikalische Seite betrifft, so ist allgemein zu sagen, daß die recht kräftige, intensive, ausdrucksstarke und sich meist in einer mittleren bis eher tieferen Tonlage bewegende Stimme von Kari Bremnes ganz klar im Vordergrund steht, während die Instrumentierung überwiegend sehr sparsam und zurückhaltend ausgefallen ist. (Für die Perkussion sorgt übrigens der Drummer der Mari Boine Band.)

Im ersten, sehr ruhigen und von einer eindrucksvollen Atmosphäre geprägten Stück "Sangen om fyret ved Tornehamn" ("Das Lied vom Leuchtturm bei Tornehamn") schildert Anna, wie das Erz in Ruderbooten und im Winter mit Schlitten und Pferd über den Syvmilssjø ("Siebenmeilensee"; vermutlich eine andere Bezeichnung des Torneträsk) transportiert wurde und der Leuchtturm zur Orientierung diente. Das Erz wurde dann weiter nach Europa verschifft, und Anna träumt dann 1898 im Alter von zwanzig Jahren davon, weiter als das Erz über einen Ozean (nach Amerika) zu reisen, noch bevor das neue Jahrhundert anbricht.

Im zweiten, fast in einer Art Sprechgesang vorgetragenen "Sangen om møtet med fjellet" ("Das Lied von der Begegnung mit dem Gebirge") schildert Anna, wie sie eher zufällig auf der gemeinsamen Suche mit einer Freundin aus Ballangen (ein Ort südwestlich von Narvik) nach Arbeit auf zwei Wanderarbeiter trifft, die eine Küchenhilfe suchen. Während ihre Freundin der lange und äußerst beschwerliche, über weite Teile zu Fuß zurückzulegende Weg ins Gebirge bis jenseits der Reichsgrenze nach Schweden hinein schreckt, willigt Anna ein. Bei diesem Stück erklingt u.a. auch eine "Quetschkommode", wobei man sich gut vorstellen kann, daß deren Klänge sicher auch mal an dem ein oder anderen langen Winterabend in einer Arbeiterbaracke zu vernehmen waren.

In "Sangen om kordan damen skal være" ("Das Lied darüber, wie die Dame sein soll") erfährt man, daß diejenigen Frauen, die als Köchin in einer Baracke arbeiteten, möglichst anständig, selbstbeherrscht, keusch, aber auch sanft und verlockend, jedoch zugleich unerreichbar sein sollten, um wie eine Dame mit Respekt behandelt zu werden. Welche ihrem "tierischen" Instinkt und dem (Be-) Drängen eines Mannes nachgebe, werde ihren schlechten Ruf nämlich nicht mehr los!

Welche Anforderungen an eine Köchin gestellt wurden – etwa die, Dynamit im Backofen aufzutauen oder aus einem alten Pferd etwas Eßbares zuzubereiten – und welche Spitz- bzw. Kosenamen man als Köchin bekam – etwa Vita Duvan (Die weiße Taube), Silverbruden (Die Silberbraut) oder Sluskmamma (Strolchenmama) –, erfährt man in "Sangen om kokkone ved Ofotbanen" ("Das Lied von den Köchinnen bei der Ofotbahn"). Die Gitarre bei diesem doch recht lebhaften Stück klingt nach Blues und das Klavier im Hintergrund erweckt den Eindruck, als befinde man sich in einem Saloon.

"Byssan lull", was man in etwa mit "Schlaflied" (um ein solches handelt es sich bei diesem Traditional) übersetzen kann, ist das ruhigste und vielleicht auch schönste Lied des Albums. Der Songtext hierzu ist leider nicht abgedruckt, aber in den einleitenden Worten schildert Anna die Begegnung mit ihrer großen Liebe, die ihr dieses Stück am letzten Abend vor der Abreise (die aber nicht endgültig sein sollte) vorgesungen hat.

Das nachfolgende "Sangen om halstørkleet som va gjenglemt" ("Das Lied vom Halstuch, das zurückgelassen worden war") handelt vom Halstuch, welches Anna von ihrem Freund bei seiner Abreise als Andenken erhielt und nun immer dicht an ihrer Brust trägt in der Hoffnung, ihr Freund möge bald zurückkehren, um es sich zu holen. Bei diesem Stück wird Karis Stimme allein von einem Klavier begleitet.

Das "Sangen sigøynerne sang" ("Das Lied, das die Zigeuner sangen") ist traditionellen Ursprungs und stammt aus Rußland. Auch hierzu ist kein Songtext abgedruckt, doch klingt es auch fast so, als singe Kari bei diesem Stück einfach nur irgendwelche Laute. Diesem Stück, welches ganz langsam beginnt und dann immer schneller wird, hört man seinen russischen Ursprung sofort an. Man kann sich auch sehr gut vorstellen, wie Svarta Bjørn (bzw. Anna) an jenem Juniabend, als ein Fest gefeiert wurde, zu dieser Musik mit ihrem Geliebten, der ebenfalls erschienen war, ausgelassen und gedankenverloren über die Tanzfläche gewirbelt ist, so wie sie es in den einleitenden Worten geschildert hat.

In "Sangen som søng i oss alle" ("Das Lied, das in uns allen singt"), bei dem leider eine Strophe nicht abgedruckt worden ist, geht es darum, auf welche Art und Weise sich Menschen selbst betrügen und täuschen können, und in den einleitenden Worten sinniert Anna darüber, daß die Menschen meinten, sie verlangten nicht viel, sondern nur einen angenehmeren Alltag, Arbeit, Essen, ein Bett, etwas Zärtlichkeit und vielleicht ein Kind, doch wenn sie auch nur ein bißchen vom Größten gekostet hätten, der Liebe, wollten sie sich nie mehr mit weniger zufrieden geben. Das in jedem von Gott angelegte Verlangen nach Liebe, das nur wenige erfüllt bekämen, sei gnadenlos. Passend zum Text ist die Musik recht langsam und besinnlich, stellenweise vielleicht auch leicht melancholisch.

Sehr unter die Haut geht "Sangen om den kyniske Anna" ("Das Lied von der zynischen Anna"), in dem Anna schildert, wie sie ihren längere Zeit kaum bemerkten und auch verdrängten Husten, zu dem dann rasch auch Fieber kam (vermutlich hat es sich dabei um eine Lungenentzündung gehandelt), vor den Arbeitern zu verbergen suchte ("Mein blutiges Kissen und mein nächtliches Weinen soll niemand auf der Welt sehen"), um sich keine Blöße zu geben, und dafür mit ihnen schlief ("Ich verbarg meinen Husten und gab ihnen meinen Körper"), aber wohl auch, um noch den kurzen Rest ihres Lebens auszukosten ("aber nun will ich alles auf einmal haben"). Sie spiegelte Fröhlichkeit vor und die Männer glaubten, ihre roten Wangen glühten vor Liebesverlangen ("Ich bot ihnen ein Fieber, das sie für Lust hielten, ich bot ihnen eine schöne Schale, sie konnten nicht ahnen in sinnlicher Nacht, daß ich bald dort liege und kalt bin").

Nicht weniger bewegend ist das letzte Stück "Sangen om ka ho Anna drømte om" ("Das Lied darüber, wovon Anna träumte"), das so eindringlich und ergreifend vorgetragen wird, daß man das Mitgefühl der Sängerin förmlich spürt und sehr gut nachvollziehen kann. Musikalisch gefällt mir dieses ruhige und sehr atmosphärische Stück zusammen mit dem ersten Lied und "Byssan lull" am besten. In den einleitenden Worten schildert Anna rückblickend, wie sie sich wirklich vor ihrem Tod fühlte und wie sie nun vom Himmel aus beobachtet, was man sich nun als Nachruf von Svarta Bjørn erzählt. Dabei merkt sie an, daß sie, wenn sie tatsächlich ein so bewegtes Liebesleben geführt hätte, wie manche es wohl gerne hätten, nicht ein einziges Mal dazu gekommen wäre, nach dem Kaffee zu schauen, wo sie sich doch besonders darauf verstand. Weiter sagt sie: "Ich hatte eine Arbeit. In zwei langen Wintern bei der Ofotbahn. Später würde ich reisen, davon träumte ich. Und es kam ein Schiff. Aber nicht das Schiff nach Amerika. Und alleine mußte ich reisen über das größte aller Meere." Das Lied selbst ist nicht aus der Sicht von Anna geschrieben, sondern an sie gerichtet. Zu Beginn der ersten Strophe wird sie gefragt: "Wovon träumtest du, Anna, als du in dein zwanzigstes Jahr gingst, träumtest du von Amerika?", zu Beginn der zweiten: "Von wem träumtest du, Anna, in deinem einundzwanzigsten Jahr? Träumtest du von einer Liebe, von einem, den du einst treffen würdest..." und die vollständige dritte Strophe lautet übersetzt schließlich so: "Träumtest du noch, Anna, in deinem dreiundzwanzigsten Jahr? Da ist es ein anderer, der dich auffordert, da mußtest du mit dem Tod tanzen, er war es, der dein Haar lösen durfte. Dann reistest du weiter als das Erz, aber sag, kannst du undeutlich einen Leuchtturm erkennen, der für den Menschentraum leuchtet, wenn das neue Jahrtausend anbricht?"

Auch wenn mich musikalisch nicht alle Stücke gleichermaßen berühren, muß ich sagen, daß mich von den Texten her bislang kaum eine Platte dermaßen tief bewegt hat, wie dieses Album. Dies liegt sicherlich an der Erzählperspektive, aufgrund welcher man sich sehr gut in Anna bzw. Svarta Bjørn hineinversetzen kann, dem tragischen Ende der Geschichte und der Tatsache, daß sie sich bei aller möglichen Ausschmückung doch tatsächlich so oder zumindest ähnlich ereignet haben könnte.

Die Texte sind in einem nordnorwegischen Dialekt verfaßt, bei dem einem bei manchen Wörtern das Wörterbuch auch nicht weiterhilft, sondern man schon ein bißchen kombinieren muß.

- Burkhard - 04/99

[Eine Übersetzung der Texte - ohne Anspruch auf völlige Korrektheit - ist bei Burkhard erhältlich. Siehe Impressum.]

- ohne Titel -
(Burkhard, 30.05.1999,
inspiriert durch "Sangen om fyret ved Tornehamn",
Original: Gouache-Farben)