Entgegen
dem Eindruck, den man bei der Lektüre diverser Metalpublikationen gewinnen
kann, leben in Norwegen doch nicht nur schwarzweiß-getünchte, christenhassende
Waldschrate! Es gibt dort offensichtlich eine ganze Reihe talentierter und auch
eigenständiger Sängerinnen, die zum Glück nicht typisch
amerikanisch klingen und nur einen weiteren Verschnitt einer Alanis Morissette,
Heather Nova, Cheryl Crow oder wie sie alle heißen darstellen. Vielleicht
ist aber genau das auch der Grund, warum ihre Platten hier bislang kaum oder
gar nicht veröffentlicht worden sind. Oder meint man, daß sich hier
eh kein Schwein eine Platte mit norwegischen Texten kaufen würde? (Diese
sprachliche Barriere ließe sich ja wie etwa im Falle der schwedischen
Gruppe Garmarna durch den zusätzlichen Abdruck deutscher Übersetzungen
überwinden, aber sowas ist den meisten Plattenfirmen vermutlich zu aufwendig.)
Wirklich bedauerlich, was einem aus diesen Gründen vorenthalten bleibt,
wenn man nicht durch irgendwelche Zufälle auf diese Platten stößt.
Dieser "Zufall" war im vorliegenden Fall eine kurze, recht interessant
klingende Plattenbeschreibung im Katalog des Plattenversandes
ARS, den ich mir eigentlich nur hatte zuschicken lassen, weil ich dort weitere
Alben von Kari Bremnes bestellen wollte.
Die vorliegende und in Deutschland nach meinem Wissen bislang nicht veröffentlichte
Platte stammt bereits aus dem Jahr 1995, aber da sie hier wohl kaum jemand kennt
(woher auch?), erscheint es mir dringend angezeigt, diesem Mißstand abzuhelfen.
Zum textlichen Hintergrund dieser Platte will ich an dieser Stelle mal die im
Textbuch abgedruckte Einleitung in meiner leider nicht gerade perfekten Übersetzung
widergeben: "Die Gedichtsammlung Haugtussa erschien vor einhundert Jahren.
Sie schildert die Jærenlandschaft mit den Leuten, die im Wechsel der Jahreszeiten
arbeiten. Das junge Mädchen Veslemøy, oder Haugtussa, wie die Leute
sie nennen, steht im Zentrum der Erzählung. Es ist eine Erzählung
von einem siebzehnjährigen Mädchen, das hinaus und seinen Lebensunterhalt
verdienen muß. Die Mutter hat kein Geld, der Vater ist fort, die Geschwister
sind entweder tot oder ausgewandert. Darum wird Veslemøy, oder Gislaug,
wie sie getauft wird, Geißenhüterin im Høgjæren.
In der Bergheide trifft sie den Junggesellen Jon, sie verlieben sich ineinander
und sie gibt ihm alles. Aber Jon betrügt sie mit einer anderen, einer,
die mehr Geld hat. Der Betrug droht, Haugtussa niederzuziehen. Sie ist geistersehend,
sie sieht die Untergangskräfte in sich selbst und in anderen. Und sie steht
kurz davor, den Zauberkräften in sich nachzugeben. Dies ist der Hintergrund
für den Existenzkampf, der in und um Veslemøy herum stattfindet.
Wird die Nachtseite in ihr das Steuer übernehmen, und sie in Krankheit
und Bitterkeit führen? Oder wird die Tagseite gewinnen, so daß sie
ihren Platz im Dasein findet und in Sympathie mit Mensch und Natur lebt?
Dieser Kampf findet auch in der Seele desjenigen statt, der diese Verse geschrieben
hat. Arne Garborg pendelt auch zwischen Aufgabe und Lebenszuversicht, und diesen
Kampf hatte er früher nicht so intim und direkt geschildert wie in dieser
Gedichtsammlung. Sowohl Veslemøy als auch Garborg überwinden die
destruktiven Kräfte in sich und um sich herum, und schaffen sich eine Plattform,
die das Leben möglich macht. Die ganz einfachen, alltäglichen Seiten
des Daseins spielen eine positive Rolle in diesem Prozeß.
Die Verse wurden zu Kirchenliedern, Wortreihen, Kehrreimen und Lockrufen, Volksliedern
und Tanzmelodien gedichtet, sie wurden erschaffen, um gesungen zu werden. Sie
bringen auch die religiöse Seite des Volkslebens in Haugtussas Umgebung
zum Ausdruck und das religiöse Verlangen bei Garborg. Insgesamt drücken
sie das aus, was Arne Garborg als Titel für einen Essay aus dieser Zeit
verwendete: Der Glaube an das Leben."
Die Texte der insgesamt 17 Songs, die es auf eine Gesamtspielzeit von 68 Minuten
bringen, stellen einen Auszug aus dieser Gedichtsammlung dar, sind jedoch so
ausgewählt, daß sie eine zusammenhängende Geschichte erzählen,
nämlich die von Veslemøy (heißt übersetzt "kleine
Maid") bzw. Haugtussa (in etwa mit "Elfe" oder "Koboldin"
zu übersetzen), wie sie auch genannt wurde. Die Musik zu den Texten hat,
wie schon im Fall der "Løsrivelse" von Kari Bremnes, Ketil
Bjørnstad geschrieben, der zugleich für Synthesizer und Flügel
zuständig ist. (Daneben kommen auf dieser Platte auch noch Geige, Harfe,
diverse Flöten, Dudelsack, Gitarre, Kontrabaß, Percussion und Drums
zum Einsatz.)
Zu den Texten ist vorab noch zu sagen, daß derjenige, der sich wie ich
zunächst mit einem einfachen Norwegisch-Wörterbuch an einer Textübersetzung
versucht, schon bald wie der vielzitierte Ochs` vorm Berg steht! Die Texte sind
nämlich nicht in Bokmål, sondern in Nynorsk verfaßt, der in
Norwegen zwar weniger verbreiteten, aber neben Bokmål gleichberechtigten
Sprache, die in den meisten Norwegisch-Wörterbüchern nicht zufinden
ist. Zwar gibt es einen gemeinsamen Wortschatz, aber auch eine Menge Wörter,
die nur in jeweils einer der beiden Sprachen vorkommen. Glücklicherweise
habe ich in einer Bibliothek ein Norwegisch-Englisch(!)-Wörterbuch finden
können, in dem auch die Wörter, die es nur in Nynorsk gibt, enthalten
sind. (Gleichwohl bin ich von einer guten Übersetzung noch weit entfernt.)
Wie ich einem Eintrag über Arne Garborg in einem großen Literaturlexikon
entnommen habe, ist im Jahr 1903 eine – allerdings wohl nur auszugsweise – deutsche
Übersetzung der Gedichtsammlung "Haugtussa" mit dem Titel "Liebe
und Stelldichein" von O. Hauser erschienen. Es dürfte aber wohl Probleme
bereiten, sie irgendwo zu finden. (Vielleicht in einer Uni-Bibliothek?)
Als Lynnis Gesang beim ersten Song "Til deg, du heid og bleike myr"
("Dir, du Bergheide und bleiches Moor") einsetzte, dachte ich zuerst:
"Klingt ja fast wie Liv Kristine!", aber schon bald konnte ich feststellen,
daß Lynnis Stimme doch variabler und kräftiger als die von Liv Kristine
ist. Zudem singt sie oft in einer etwas tieferen Tonlage. Der erste Song klingt
mit fast sirenenhaftem Gesang aus. Den zweiten Song "Det syng" ("Es
singt") habe ich, ehrlich gesagt, inhaltlich nicht so ganz kapiert. Musikalisch
ist er lebhafter als der erste, aber unterschwellig leicht traurig. Während
beim ersten Stück die Begleitung in erster Linie durch das Piano erfolgt,
sind es hier die Geigen, die besonders gegen Ende im Vordergrund stehen. Im
sehr gefühlvollen und mit Harfenklängen beginnenden "Fyrivarsl"
("Vorwarnung") erscheint Veslemøy morgens im Schlaf ihre verstorbene
Schwester mit einem silbernen Kelch, den sie austrinken müsse. Sie prophezeit
ihr ein schweres Schicksal und daß sie "das, was sich in der Nacht
versteckt" erkennen und sehen werde. Weiter sagt sie: "Du hast einen
so dunklen Weg. Aber wenn du ausgleitest, bin ich nicht weit von dir."
Als die erste Morgenröte durch das Fenster scheint und Veslemøy
erwacht, entschwindet ihre verstorbene Schwester. Im nachfolgenden "Veslemøy",
bei dem der fast flüsternde Gesang wieder etwas an Liv Kristine erinnert
und wirklich nach einer "kleinen Maid" klingt, wird selbige bzw. ihre
äußere Erscheinung beschrie-ben. Zu den Augen heißt es u.a.:
"es ist, als ob sie starrend schauten, weit in eine andere Welt hinein."
In "Haugtussa" , welches sehr atmosphärisch ist und schon leicht
unheilvoll klingt, erfährt man, daß zur selben Zeit, als Veslemøy
ihre Schwester im Traum erschien, der abwesende Vater verstorben ist. "...-
Seitdem sah sie in Hügeln, auf Wiesen, sowohl Heinzelmännchen als
auch Neck, sowohl Seegespenst als auch Troll und den Geist mit dem langen Haar."
Man spürt schon an der stellenweise regelrecht klagend und heulend klingenden
Gitarre – bei diesem Song gibt es auch ein schönes Solo –, daß mit
Veslemøy etwas passiert ist, und der Gesang klingt bei diesem Song teilweise
schon fast aggressiv (oder soll er Verzweiflung ausdrücken?).
Eine märchenhafte Winterlandschaft, die man sich schon gut aufgrund des
begleitenden Pianospieles vorstel-len kann, wird in "Måneskinsmøyane"
("Die Mondscheinmaiden") in sehr poetischen Worten beschrieben. In
einer sternenklaren Winternacht erblickt Veslemøy plötzlich weiße
Maiden, die zum Tanz gehen: "Er-schaffen sind sie aus der blauen Luft;
Kleider aus Mondblüten haben sie an, verziert mit Sternenglanz, sanft ihre
kleinen Brüste bedeckend." Nachdem Veslemøy dem Treiben lange
fasziniert zugeschaut hat, "nicken sie wie zum Gruß. Und verschwinden
in der Luft wie ein grauer Frosthauch."
Im nachfolgenden mit dezenter Pianobegleitung, die schon etwas leicht Märchenhaftes
an sich hat, vorgetra-genen "Mot soleglad" ("Zum Sonnenuntergang
hin") erfährt man von einem Elfenland, das am Horizont aus dem Meer
emporsteigt, jedoch für Menschen unerreichbar ist. Beim Sonnenuntergang
scheint es dann, als gerate die Gipfelkette dieses Landes in Brand, bis danach
wieder alles in "abendblauer Ruhe" liegt.
Jon, der Hirtenjunge, in den Veslemøy sich verliebt, wird in "Den
snilde guten" ("Der liebe Junge") vorge-stellt. Er hat Veslemøy
näher mit der Heidelandschaft, "in der nie irgendjemand gewohnt oder
gebaut hat", vertraut gemacht. Bei diesem Song gibt es nach der dritten
Strophe ein schönes Flötensolo mit dezenter Harfenbegleitung.
Ein romantisches Treffen von Veslemøy und Jon wird in "Møte"
("Begegnung") geschildert: wie sie einander Händchen halten,
aber nicht wissen, was sie sagen sollen, wie sie zum Abend hin näher zusammen-rücken:
"Und plötzlich legt sich der junge Arm um den Hals, und wild beben
sie gemeinsam Mund zu Mund. Alles verschwimmt. Und dort am warmen Abend schläft
sie in tiefer Glückseligkeit in seinem Arm." Hier bilden Baß
und dezente Percussion das musikalische Grundgerüst, das dann später
noch durch Geige und Gitarre verstärkt wird. Der Gesang drückt passend
zum Text Veslemøys Freude und Glück aus.
Im nachfolgenden "Elsk" ("Liebe") beschreibt Veslemøy
ihre tiefe Liebe zu Jon, sie möchte mit ihm eins sein und muß ständig
nur an ihn denken. Die Musik macht hier auf mich schon einen leicht unheilverkünden-den
Eindruck und der Gesang klingt stellenweise fast eindringlich.
Der Titel "Vond dag" ("Schlimmer Tag") des nächsten
Songs läßt schon erahnen, was kommt. Am Sonntag ist Jon nicht zum
verabredeten Treffen erschienen und einsam weint Veslemøy unter einem
Busch. "Sie muß hören, daß dieser ansehnliche Junge, dem
sie so vertraute, leicht sein Versprechen brach und unbeschwert mit allen hübschen
Mädchen flirtete. Aber nun wandert er auf Freiersfüßen zu dieser
reichen Dame aus Aas." Sie windet sich die ganze Nacht weinend krank und
zitternd im Bett und möchte am liebsten sterben. Dieser Song wird bis auf
ein regelmäßiges "Rummsen" im Hintergrund a capella vorgetragen,
wobei Lynnis Gesang in der 3. und 4. Strophe recht überzeugend Enttäuschung
und Schmerz ausdrückt.
"Ved gjætle-bekken" ("Am Weide-Bach"), der fröhlich
vor sich hinplätschert, kullert, gluckst und in der Sonne glitzert, beschließt
Veslemøy zu verweilen, zu träumen und zu vergessen. Vor diesem Song
gibt es ein ganz zartes Pianozwischenspiel (ohne Titel). Beim Song selbst wird
durch Percussioninstrumente gelegentlich das Plätschern eines Baches nachgeahmt.
Nach der 2. Strophe und gegen Ende gibt es ein Flötensolo, das ebenso "rauh"
und wild klingt, wie die Landschaft, die man auf den Fotos im Textheft sehen
kann.
In "Mjukt som i gråt" ("Sanft wie beim Weinen") sinniert
Veslemøy über den Klang der Harfe (die bei diesem Song aber nicht
zu hören ist). Hier gibt´s nur dezente Pianobegleitung, die übrigens
genau so beginnt, wie das zuvor erwähnte Zwischenspiel ohne Titel.
Es folgt "Haust" ("Herbst") und "nun rollt das Meer
heftig an gegen das Land". Der Sturm tost in wildem Grausen und jagt über
die Tiefe. "Die letzte Graugans fliegt nach Süden; unter den Wolken
müht sie sich schwer ab, alles Leben will sich in Winterlager und Winterbau
ver- und fortgraben." "Meine betrogene Hoffnung nahm mir alles, und
das Herz schmerzt und blutet. Und das Meer rollt heftig an gegen das Land, und
der Regen prasselt ans Fenster; es singt und saust über den öden Strand,
daß nun alles aus ist." Der Song beginnt mit Geige und Dudelsack
und später setzt dann auch noch die Gitarre ein. Die Musik vermittelt ein
Gefühl von Schwermut und Traurigkeit. Das Stück klingt mit durch Percussioninstrumente
erzeugtem "Wassergeplätscher" aus.
In "Uro" ("Unruhe") fragt sich Veslemøy, wie es ihr
gehen werde, wenn sie Gott vergesse, das Herz krank von der Liebe träume
und sie außer sich selbst soviel verloren habe. Neben der dezenten Pianobegleitung
ist hier im Hintergrund ein kratzendes/schleifendes Geräusch zu hören,
das so klingt, als ob jemand langsam eine Steinplatte über rauhen Steinboden
schiebt.
Veslemøy bittet in "Bøn" ("Gebet"): "Oh
hilf mir, du, der helfen kann! Du siehst, wie verwundet ich kämpfe...Meine
Not kann ich nicht aussprechen; das Schlimme wurde eine so große Macht;
es schmerzt wie Feuer in der Brust...Meine Not ist groß, mein Kampf ist
schwer; sei bei mir, du, der mir wohl will! Dann weiß ich, daß sich
alles wendet." Während der Gesang in der ersten Strophe noch fast
schüchtern klingt, wirkt die Bitte um Beistand in der 2. Strophe schon
eher eindringlich-fordernd.
Im letzten Song "Fri" ("Frei") sieht Veslemøy nachts
an ihrem Bett eine Frau in langen, dunklen Kleidern stehen, daneben lächelnd
ihre verstorbene Schwester: "Steh auf, steh auf, die liebe Schwester! Nun
bist du erlöst...Hör die Feiertagsglocke läuten! Von allen Trollen
wandtest du dich ab. Und in deinem Kummer fandest du dich selbst...Komm, folge
uns auf deinem neuen Weg, der dich aus der Dunkelheit führt hin zu Licht
und hellen Tagen! Der Pfad ist steil, der Weg ist lang. Aber niemand bereut
diesen Weg..." Dieser Song ist durchgehend sehr ruhig und vermittelt tatsächlich
etwas wie eine "erlöste" Stimmung.
Hinzuweisen ist noch auf die stimmungsvollen schwarzweißen Landschaftsaufnahmen
im Textheft, die ideal zu der in den Songs ausgedrückten Stimmung passen.
Sie wirken schon etwas märchenhaft-geheimnisvoll, und man kann sich gut
vorstellen, daß Menschen, die in dieser sehr einsam wirkenden Gegend lebten,
geglaubt haben, hier könnten auch solche Fabelwesen wie Trolle, Kobolde
und was es da sonst noch so gibt ihr Zuhause haben und ihr Unwesen treiben.
Insgesamt ist festzuhalten, daß die Instrumentierung meist eher dezent,
aber sehr effektvoll ist, vor allem was die Percussion angeht. Folkloristische
Einflüsse sind sicherlich vorhanden, doch würde ich nicht von einem
typischen Folk-Album sprechen.
Diese Platte ist, auch wegen der Länge, keine leichte Kost, die man sich
mal so eben nebenbei "reinzieht", aber es ist eine sehr schöne
und vor allem im Hinblick auf die Geschichte auch originelle und interessante
Platte.
- Burkhard - 06/99
[Eine Übersetzung der Texte - ohne Anspruch auf völlige Korrektheit - ist bei Burkhard erhältlich. Siehe Impressum]