In jedem neuen NEW MODEL ARMY-Album seit etwa 1993 wollen die
Fans endlich wieder eine Rückbesinnung auf alte Stärken sehen, man
lobt das Songwriting, von einer "Reifung" spricht man, aber eigentlich
gesteht man leise, dass "Carnival" (2005), "Today Is A Good
Day" (2009) und "High" (2007) Alben sind, die man als Fan der
Vollständigkeit halber im Regal stehen hat - NMA-Fans haben noch CD-Regale,
da bin ich mir sicher, und nicht nur Ordner auf der Festplatte oder ein Streaming-Konto.
Zwei gute Songs vielleicht sind es, die von jedem Album hängengeblieben
sind.
"Between
Dog And Wolf" war dann doch eine Überraschung, es waren wieder kleine
Hymnen dabei, wenngleich für meinen Geschmack zu laut abgemischt und
vom Gitarren-Sound her möglicherweise auf ein Publikum zielend, welches
der Band auch in Wacken zuhören würde. Aber dies sind die Mäkeleien,
die das Alter so mit sich bringt. Trotzdem hatte ich im Spätsommer 2016
keine hohen Erwartungen, als "Winter" rauskam. Zugeben, es brauchte
die oft zitierten zwei, drei Durchläufe, im Vergleich zu den erwähnten
Werken lief das Album danach aber noch öfter, immer wieder. NMA können
sie noch, die Mischung aus Wut und Melancholie, die mich zum ersten Mal aufhorchen
ließ, als ich ANACRUSIS' Coverversion von "I Love The World"
hörte.
Und wenn NMA dann schon mal in der Stadt spielen, das erste Mal seit 37 Jahren,
wie Justin Sullivan betonte, was nicht ganz stimmte, denn er war schon mal
solo hier und vor ein paar Jahren mit Dean White, dann geh' ich natürlich
hin, beziehungsweise steige auf's Fahrrad.
Ins Mischwerk passen etwa 400 Leute, glücklicherweise waren die nicht
alle da, doch genug, um Stimmung aufkommen zu lassen. Von früheren Konzerten
mit NMA hatte ich das Publikum durchmischter in Erinnerung, heute war man
auf einer Ü30-, wenn nicht gar Ü40-Veranstaltung, bei der jedoch
auch jüngeres Volk geduldet wurde.
Nach der Vorband begannen NMA mit "R'n'R" vom 2000er Album "Eight",
welches ich, um meine flauen Gefühle eingangs etwas zu relativieren,
uneingeschränkt empfehlen kann. Die exakte Reihenfolge der Playlist habe
ich nicht abgespeichert, da es sich immer noch um die Tour zum aktuellen Album
handelte, waren natürlich einige Songs aus "Winter" dabei:
der Titelsong, "Burn The Castle", "Part The Waters", "Born
Feral", "Devil" und "Eyes Get Used To The Darkness".
Das kam live sehr gut, wenn auch Justin Sullivan manchmal gegen die Instrumente
seiner Mitmusiker anschreien musste, so kam es mir vor. Gleiches Schicksal
befürchtete ich anfangs für die Geigerin Shir-Ran Yinon, die NMA
auf dieser Tour als Gastmusikerin begleitet. Sie betrat die Bühne, begann
zu spielen, schüttelte ihre lange Haare durch die Luft, aber man hörte
wenig von ihr. Sollte hier eine durchaus talentierte Musikerin, was mir ein
Blick auf ihre Homepage vor dem Konzert verraten hatte, einem live veranstaltetem
Loudness-War geopfert werden? Doch es wurde im Lauf des Konzerts besser, viel
besser, um es vorwegzunehmen, vielleicht hatte es der Mann am Mischpult auch
bemerkt.
Auffällig war, dass die Band nichts von den oben genannten drei Alben
spielte, dafür aber schon sehr früh "The Charge" von "Thunder
And Consolation" (1989) und nachfolgend "Here Comes The War"
(1993), "No Pain" und "Wonderful Way To Go" (1998) und
"51st State" - überraschenderweise ohne eine kommentierende
Ansage - zusammen mit "Poison Street" und "Higher Wall"
aus der Mitte der 80er Jahre. Letzteres setzte Justin Sullivan in Bezug zu
"Die Trying" vom aktuellen Album, denn für Flüchtlinge
aus Kriegsgebieten hätte sich in den vergangenen 30 Jahren nicht viel
geändert.
Gegen Ende des Konzerts betrat Shir-Ran Yinon allein die Bühne und setzte
zu einem Song an, der geschrieben, wurde, als sie möglicherweise noch
gar nicht geboren war. Alle Anwesenden erkannten ihn sofort und man glaubte
die Elektrizität zu spüren, die allen die Haare leicht aufstellte.
Justin Sullivan folgte nach und stimmte mit E-Moll, G, H-moll, D "Vagabonds"
an. Als die Schlagzeuger einsetzen, begannen die vorderen Reihen zu hüpfen,
und etwaige noch bestehende Altersunterschiede im Publikum waren vergessen
- "We are old, we young, we are in this together".
Justin Sullivan kommuniziert bei seinen Konzerten gern mit dem Publikum, wobei
durchschien, dass er sich in Regensburg in der tiefen Provinz wähnte,
im Hinterland von Bayern. Dazu passend gab es zum Abschluss "Green And
Grey", welches alle Beteiligten glücklich in die kalte Nacht entließ.
Am
Merchandise-Stand entdeckte ich eine DVD mit der kürzlich erschienenen
und 2014 und 2015 schon auf Film-Festivals gezeigten Doku "Between Dog
And Wolf - The New Model Army Story". Ich bin nicht mehr so auf dem Laufenden,
was Neuheiten anbelangt, darum hatte ich davon noch nichts gehört und
besorgte mir die DVD ein paar Tage später.
Die Doku entstand in Zusammenarbeit mit der Band im Vorfeld des "Between
Dog And Wolf"-Albums und zeichnet den Weg von NMA von der Entstehung
in den frühen 80er Jahren bis heute nach. Ehemalige und aktuelle Bandmitglieder
kommen zu Wort, und es gibt einige, zum Teil überraschend gute Konzertmitschnitte
aus den Anfangstagen. Justin Sullivan spricht offen über die oft konfliktreiche
kreative Zusammenarbeit mit dem 2004 verstorbenen Rob Heaton (titelgebend
für das "Strange Brotherhood"-Album), ebenso erfährt man
mehr über die Rolle von Justins "best friend" Joolz, die in
und außerhalb der Band nie unumstritten war ("die Yoko Ono von
New Model Army"), deren Wirkung, so erfährt man, aber weit über
das Zeichnen der Albumcovers hinausgeht.
Hätten NMA in den 80ern zwei, drei große Hits gehabt, wie sie von
den Plattenfirmen erwartet wurden, wären sie nach wenigen Jahren in der
Versenkung verschwunden, so eine These, die in der Doku aufgestellt wird und
die mir nachvollziehbar erscheint. So erspielte man sich durch intensives
Touren auch in entlegenere Teile von Europa eine treue Fangemeinde, der "family",
der es egal war, ob die Band in der Mainstream-Musik-Presse präsent war
oder nicht. Gerade zu Deutschland hat die Band ein besonderes Verhältnis,
das Justin Sullivan so erklärt: "Der deutsche Charakter ist einerseits
sehr direkt, die Sprache ist sehr ehrlich, direkt. Andrerseits sind die Deutschen
sehr romantisch und möchten Dichter sein und sind im Wald verloren. Und
dieser Widerspruch ist ein bisschen, was wir machen. New Model Army haben
diesen direkten Punkt - in your face. Und gleichzeitig eine starken Sinn für
Romantik. Somit glaube ich, das spricht die Deutschen an."
Kann und sollte man sich als alter oder neuer Fan auf jeden Fall kaufen.
Und jetzt hör' ich doch nochmal etwas in die Werke aus dem 2000er Jahren
rein
- Martin - 04/2017