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Jens Becker - Kurzschluss - Der Amoklauf von Erfurt und die Zeit danach (2005)

Etwas mehr als dreieinhalb Jahre sind vergangen. Seit Mitte dieses Jahres ist das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt nach umfangreicher Sanierung wieder für den normalen Schulbetrieb zugänglich. Doch von Normalität kann kaum die Rede sein angesichts der blutigen Zäsur, die am 26. April 2002 das Gebäude, in dem damals gerade die Abiturprüfungen begannen, und die Stadt Erfurt heimsuchte: Robert Steinhäuser, ehemaliger Schüler des Gymnasiums, betritt die Schule, maskiert und schwer bewaffnet. In einem erschreckend konsequenten Amoklauf löscht er 16 Menschenleben aus, überwiegend frühere Lehrer sind sein Ziel. Am Ende tötet Robert Steinhäuser sich selbst.

Soweit die offizielle Bilanz. Die Tat ruft großes Entsetzen hervor und auch die zu erwartende Hilflosigkeit greift um sich. Politiker machen noch am darauffolgenden Wochenende unter anderem Gewaltdarstellungen in Medien als Ursache für den Amoklauf aus und fordern stärke Restriktionen im deutschen Waffenrecht. ZDF-Moderator Johannes B. Kerner verlegt seine Talksendung nach Erfurt, um direkt vom Schauplatz der Tragödie zu berichten und erfährt für diese Entscheidung zum Teil massive Kritik. Das Leben des Robert Steinhäuser wird detailliert durchleutet, um eine Erklärung dafür zu finden, wie ein junger Mensch beschließt, sein Leben auf derart radikale Weise zu beenden und so viele Opfer wie möglich mit in den Tod zu reißen. Die Faszination Steinhäusers für virtuelle "Killerspiele" wie Counterstrike oder von Politikern ins Spiel gebrachte, nebulös-undifferenzierte Begriffe wie "Gewaltfilme" als Auslöser für das Massaker prägen die Berichterstattung.

Auch der Filmemacher und Autor Jens Becker beschäftigt sich mit dem Amoklauf, entschließt sich jedoch für eine weitaus tiefergehende Beschäftigung mit den Menschen, die als Zeugen oder als Hinterbliebende der Getöteten unter schweren Traumafolgen leiden. Neben zwei Dokumentarfilmen entsteht das Buch KURZSCHLUSS, in dem Becker ein breites Spektrum an Menschen zu Wort kommen läßt, die in ihren Worten zu erzählen versuchen, wie sie den 26. April 2002 wahrgenommen haben und danach versuchten, mit den Folgen zu leben. Schüler des Gutenberg-Gymnasiums sind ebenso darunter wie die Frau eines getöteten Lehrers, der Bürgermeister der Stadt Erfurt oder eine Traumatherapeutin, die als psychologische Nothilfe buchstäblich Fließbandarbeit zu leisten hatte.

Aus der mit großer Authentizität zusammengestellten Vielfalt der Eindrücke ergibt sich das deprimierende Bild einer Schul- und Lebensgemeinschaft, die von einem Ereignis überrollt wurde, welches das Leben aller Beteiligten nie wieder verlassen wird. So hoffnungsvoll die Solidarität und gegenseitige Unterstützung von Lehrern und Schülern stimmt, so wütend macht die Ignoranz der großen Politik, die selbst bei der offiziellen Trauerfeier in Erfurt nicht von ihrer professionellen Medieninszenierung lassen kann. Leibwächter hochrangiger Parteiprominenz drängen die traumatisierten Schüler, um die es eigentlich hätte gehen müssen, zur Seite, damit ihre Schützlinge - im gleichen Jahr wird Bundestagswahl sein - fernsehgerecht ins Bild gerückt werden können. Zugegeben, ein zynischer Satz, doch berechtigt angesichts der Frage, ob man sich in solchen Augenblicken nicht besser zurückzieht und die unmittelbar Betroffenen in aller Stille unbeobachtet trauern läßt.

KURZSCHLUSS hält sich an das Gebot einer feinfühligen und doch genau beobachtenden Distanz, die mehr über die Tat Robert Steinhäusers und ihre schrecklichen Folgen aussagt, als all jene damals hektisch zusammengeschnittenen Bilder von trauernden Schülern und Eltern, Szenen aus Ego-Shootern und "Gewaltvideos", die mit passenden Klängen à la Slipknot unterlegt wurden, um im Stammtischpsychologie-Format zu vermitteln, wie es denn in Robert Steinhäuser wohl ausgesehen haben mag. Neben der journalistischen Reife und Sorgfalt ist es gerade die Fähigkeit Jens Beckers, sich im entscheidenden Augenblick zurückzuhalten und seine Gesprächspartner einfach nur erzählen zu lassen. Das Ergebnis ist ein Buch, das sich angenehm abhebt vom hysterischen Geschrei der Aktionisten, die nach Erfurt ihre Binsenweisheiten zum Besten gaben, mit denen freilich niemandem geholfen war.

Über den Täter selbst ist Beckers Buch nur wenig zu erfahren (ein Interview mit seinen Eltern ist abgedruckt), was angesichts der intensiven Beschäftigung der Medien mit dem Erfurter Amoklauf auch nicht unbedingt notwendig war. Seiner Motivation wird man letzten Endes als Außenstehender sowieso nur schwer wirklich nahekommen können, ohne sich in Vermutungen zu begeben, die oberflächlich bleiben müssen. Jens Beckers Interesse gilt jenen Menschen, die heute noch mit den Folgen der Tat zu kämpfen haben, während die Karawane der medialen Aufmerksamkeit längst weitergezogen ist. KURZSCHLUSS ist Bestandsaufnahme und Ausblick in eine hoffentlich friedlichere Zukunft für die Betroffenen, eine wichtige Lektüre ohne sensationsheischende Indiskretionen.


Erhältlich im Buchhandel oder bei "Schwartzkopff Buchwerke"
Preis bei Amazon: 18 Euro (Verkaufsrang ca. bei 300.000 ...)
ISBN: 3937738304

- Stefan - 11/05