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Jürgen Engler (Hrsg.) – Apokalypse (2005)

Rechtzeitig zur bevorstehenden trüben Jahreszeit veröffentlichen die Schwartzkopff Buchwerke mit Apokalypse – Schreckensbilder in der deutschen Literatur seit Jean Paul eine Anthologie, die es in sich hat. Vom Herausgeber, dem Literaturwissenschaftler Jürgen Engler, als Lesebuch konzipiert, wird der Leser auf über 350 Seiten mit einer Vielzahl von Variationen zum Thema Weltuntergang im weitesten Sinne konfrontiert, beschworen vor einer beeindruckenden Auswahl historischer und gesellschaftlicher Hintergründe.
Ausgehend von der Blaupause aller literarischen Horrorvisionen, der Apokalypse oder Offenbarung des Johannes aus dem Neuen Testament, werden in Form von Essays, Erzählungen, Auszügen aus größeren Werken und einigen wenigen Gedichten Texte namhafter und eher unbekannter Autoren vorgestellt, die sich irgendwann im Laufe der letzten paar Jahrhunderte einmal mit dieser Thematik beschäftigt haben. Angesichts des doch eher etwas morbiden Sujets liegt es auf der Hand, daß man dieses Buch nicht gerade relaxed und "am Stück" lesen kann. Herausgeber Engler hat aber vorausgedacht und eine Gliederung nach Epochen und thematischen Schwerpunkten angelegt. Seine Kommentierungen am Ende jedes Beitrags erleichtern dem Leser darüber hinaus die Orientierung in diesem etwas sperrigen Werk, das zu lesen sich allerdings wirklich lohnt.
Was Apokalypse so lesenswert macht? Nun, wie so oft ist es die Mischung, und zwar die aus bekannten und unbekannteren Autoren sowie die thematische Bandbreite, die abgedeckt wird. Namen wie E.T.A. Hoffmann, Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche, Thomas Mann, Bert Brecht, Erich Kästner, Friedrich Dürrenmatt, Peter Handke, Günter Grass oder Hans Magnus Enzensberger (letzterer belehrend wie immer, aber nicht einmal schlecht) dürften wohl jedermann geläufig sein und überraschen mit teilweise nie erwarteter Schärfe oder Düsternis. Daneben stechen vor allem aber jene Autoren heraus, die sich Ereignissen der jüngeren Vergangenheit angenommen und diese literarisch aufbereitet haben: Gerade die Beiträge zum Millenium und zum 11.9.2001 berühren den Leser in besonderem Maße - zum einen wegen ihres unprätentiösen Erzählstils und zum anderen wohl auch wegen ihrer mitreißenden Aktualität.
Selbst der große Tsunami von 2004 fand hier Berücksichtigung, leider nur in Form eines – fiktiven – Romanfragments. In dieser Rubrik hätten Auszüge aus Eugen Drewermanns Ausführungen anläßlich der kaum faßbaren weihnachtlichen Flut ("Warum?" – Naturkatastrophen und die Frage nach Gott) dem Leser völlig neue Horizonte erschließen können, zumal unmittelbar im Anschluß der bemerkenswerte Anhang mit teils religiös, teils philosophisch gefärbten Abhandlungen von Ernst Bloch, Günther Anders und – abermals – Hans Magnus Enzensberger folgt. Aber das könnte durchaus auch auf rechtlichen Gründen beruhen, spekuliere ich einmal hinsichtlich der Eigenwilligkeit des kauzigen Theologen...
Was die verschiedenen Beiträge ungeachtet ihres jeweiligen Kontexts verbindet, ist das bedrohliche, unentrinnbare Element ("Apokalypse" stammt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie Grauen oder Unheil), das aber trotz aller vermeintlichen, temporären oder wie auch immer gearteten Handlungsunfähigkeit im Angesicht einer Katastrophe stets eine gewisse Zuversicht oder einen Willen zum Widerstand erkennen läßt. So oft man bei der Lektüre von Apokalypse auch mit erschreckenden Szenarien zwischen Glaube und Aberglaube, Fatalismus und Verzweiflung oder Panik und Psychose konfrontiert wird, so oft einen in Anbetracht der dargelegten Abgründe menschlichen Denkens, Erlebens und Empfindens ein Schauer überkommen mag; aus allen Schrecknissen erwachsen auch wieder Hoffnungen: Auf das eigene Überleben, auf ein Ende des Horrors, auf Gerechtigkeit, auf einen tieferen Sinn. Und hier schließt sich denn auch wieder der Kreis zu dem, was ein halbwegs gebildeter Mensch unseres Kulturkreises wohl zuallererst mit dem Begriff Apokalypse assoziiert: Der Offenbarung des Johannes.
Vielleicht ermuntert dieses Buch ja einige sog. Christen dazu, wieder einmal (so überhaupt jemals geschehen) die Bibel zur Hand zu nehmen und in der Offenbarung zu schmökern. Und wenn man einmal davon absieht, daß sich vieles darin für heutige Verhältnisse etwas wirr, bisweilen gar schizophren liest, kann sie einen einigermaßen objektiven Leser zu äußerst interessanten Schlußfolgerungen führen. Bands wie IRON MAIDEN z.B. zehrten in ihrer Frühzeit gewaltig von dieser Inspirationsquelle. Aber auch heute können einem Begriffe (und vor allem deren Erläuterungen!) wie "Antichrist" oder "Endzeit" zu einigen amüsanten Erkenntnissen verhelfen. Aber dies nur am Rande...
Kurzum: Die hier rezensierte Apokalypse ist eine nicht unbedingt leicht zu konsumierende Lektüre für die langen Herbst- und Winterabende. Immer wieder einmal wird der Leser das Buch zuklappen (müssen), um das Gelesene zu verdauen, er (oder sie) wird es womöglich auch eine Zeit lang liegen lassen, nur um dann Tage später von einem bestimmten Themenkomplex angeregt Seite um Seite zu verschlingen.
Apokalypse als Ganzes muß man sich wirklich erarbeiten. Vortrefflich passend – je nach persönlicher Konstitution - zur alljährlichen Herbstdepression oder auch zur vorweihnachtlichen Besinnlichkeit.

- Klaus - 10/05