Das
folgende Interview war einer der ersten Texte, die nach dem Erscheinen des
dritten Nonkonform geschrieben wurden (Mitte ’96) und somit einer der ältesten
in der nachfolgenden letzten Ausgabe. Das Interview war also schon 1999 nicht
mehr ganz frisch, aber da ich Rays Idealismus noch heute bewundere, habe ich
es unverändert hier nochmal veröffentlicht, bis auf das Klebelayout
natürlich. Glücklicherweise hatte ich die merklich mitgenommene
und laut ratternde Diskette mit der Textdatei und den Graphiken (das CHAOS-Logo
absolut dilettantisch eingescannt - und gerade deshalb habe ich es so gelassen)
noch unter meinem Gerümpel gefunden. Ein Relikt aus Zeiten, als die FH-Computer
noch mit Windows 3.11 liefen und das Internet noch was Besonderes war.
Aus dem im Interview erwähnten Buchprojekt ist schließlich
doch nichts geworden, das CHAOS veröffentlicht Ray aber noch unregelmäßig
und in Kleinauflage. Familie und Beruf nehmen doch sehr stark in Anspruch,
vor allem wenn man die 40 mittlerweile überschritten hat... Die
Zeichnung rechts stellt übrigens ein Eigenportrait von Ray dar.
Seit 2007 betreibt Ray ein Blog, nachdem er lange Jahre
mit einer spartanischen Website präsent war. Es lohnt sich reinzuschauen:
http://www.raysrealm.blogspot.com/
- Martin - 10/00
Der Name Ray Dorsey wurde in früheren Ausgaben dieser Publikation
schon mal erwähnt. Es handelt sich hierbei um einen bewundernswerten
Idealisten, der seit Anfang der 80er Jahre das CHAOS Fanzine herausgibt, dieses
aber vor ein paar Jahren zugunsten seiner Arbeit an einem Buch über die
vergessenen Heavy Metal- und Hardrock-Bands der 70er und frühen 80er
Jahre zurückstellte. Das CHAOS war ein sehr schön gemachtes Fanzine
(Klebe-Layout, Schreibmaschinensatz usw., man kennt das ja irgendwoher...)
bei dem Rays Leidenschaft für diese Musik auf jeder Seite sichtbar
wurde. Von den paar anderen US-Fanzines, die ich kenne, konnte keines dem
CHAOS das Wasser reichen. Zwischenzeitlich muß sich Ray mehr um seinen
Sohn, als um sein Buch kümmern, doch ich glaube, da sind die Prioritäten
richtig gesetzt.
Nun, ich habe mit Ray schon mehrere Briefe ausgetauscht, doch nun ist es mal
an der Zeit, ein Interview mit ein paar eingehenderen Fragen zu führen,
damit dieser sympathische Kerl die Gelegenheit bekommt, sich den Lesern des
NONKONFORM vorzustellen. Das Interview wird hier ungekürzt wiedergegeben.
Ray ist übrigens begeisterter NONKONFORM-Leser (und einer unsere zwei
Anhänger in den USA) und kannte schon das GIANTS LORE - und das, obwohl
er nur wenig Deutsch kann. That’s apprechiated, man!
Geführt wurde das Interview von April bis Juli ‘96 (zwischendurch wurde
Rays Wagen mal gestohlen...) teils per Brief, teils per e-mail, das mir die
elitäre Bildungsanstalt, an der ich eingeschrieben bin, kostenlos zur
Verfügung stellt. Das soll nochmal einer sagen, daß sich studieren
nicht lohnt...
Wurdest Du schon einmal zu einem Interview genötigt,
Ray?
Genötigt? Du meinst, richtig erpreßt, oder so? Ha, ha, nein, ich
wurde bisher nur einmal interviewt, und zwar von einen Magazin aus New Jersey,
deshalb ist es für mich ziemlich ungewohnt, mal auf der anderen Seite
des Mikrophons (Mikrophon? - Martin) zu sitzen. Entschuldige deshalb,
wenn es manchmal so klingt, als wüßte ich nicht, was ich eigentlich
rede.
Wann hast Du mit dem CHAOS genau angefangen, und was war damals Deine Motivation?
Welchen Sinn hat Deiner Meinung nach ein Fanzine im Gegensatz zu einem kommerziellen
Magazin?
Ich habe mit CHAOS Mitte 1983 begonnen. Damals arbeitete ich in einem Plattenladen.
Wir verkauften das KERRANG und das AARDSCHOCK, aber das waren schon ziemlich
kommerzielle Hochglanz-Magazine. Eines Tages bekamen wir ein paar Ausgaben des
METAL MANIA-Fanzines aus San Francisco rein, das von Ron Quintana herausgegeben
wurde. Das war ein absolutes low-budget-Fanzine, mit der Schreibmaschine getippt,
Klebe-Layout und kopiert anstatt richtig gedruckt. Was noch besser war: hier
war mehr Underground (also Bands, die damals noch Underground waren) drin als
im KERRANG oder ähnlichen Magazinen. Denk’ zurück an ‘83 - in diesem
Fanzine waren hauptsächlich Bands wie METALLICA, MERCYFUL FATE, FATE, LOUDNESS,
CRYSTAL PRIDE, VOIE DE FAIT, RISING FORCE und SILVER MOUNTAIN. Bis heute ist
das METAL MANIA mein Lieblings-Fanzine, und Ron ist mein einziges Vorbild, was
Fanzines anbelangt. Er brachte 22 Ausgaben bis ‘87 raus, und sie sind alle unglaublich
gut. Nun gut, ich nahm eines dieser Hefte mit nach Hause und während ich
es las, kam es mir plötzlich: So etwas kann ich auch! Ich wußte,
daß ich gut schreiben kann; ich hatte schon Musik-Reviews für die
Highschool- und College-Zeitungen geschrieben. Jetzt hatte ich eine Ausdrucksform
entdeckt, wo ich meine Interessen am Schreiben und an Musik wieder verbinden
konnte. Ich fing mit der ersten Ausgabe am nächsten Tag an, die Sache kam
ins Rollen, und habe es nie bereut. Eigentlich hieß die erste Ausgabe
von CHAOS METAL MAELSTROM, aber ich änderte den Namen mit der Nummer 2,
nachdem ein Freund von mir, Ed Robbins, das Logo gezeichnet hatte.
Für mich ist der Unterschied zwischen einem großen, kommerziellen
Magazin und einem Fanzine, wie ich oder Ron es gemacht haben, ziemlich groß.
Große, kommerzielle Magazine müssen alle Bereiche abdecken, die gerade
in sind. Beim CHAOS habe ich immer ohne zu zögern drauflos geschrieben
und meine Meinungen und Gedanken zu dem, was im Musikbereich und verwandten
Bereichen los ist, geäußert. Wenn mir da andere Leute zustimmten,
dann war das OK, wenn nicht, hat mich das auch nicht groß geärgert.
Was die großen Magazine betrifft, ist es so, daß sie darauf achten
müssen, ihren Lesern ein leicht verdauliches, glattes Produkt anzubieten,
denn schließlich müssen sie ja eine bestimmte Anzahl Hefte verkaufen,
um im Geschäft zu bleiben. Bei einem Fanzine wie dem CHAOS war (und ist)
dies bei keiner Ausgabe der Fall. Ich habe nie Geld mit dem Heft verdient; eigentlich
eher Verluste gemacht, aber ich habe festgestellt, das da etwas sehr Interessantes
passiert, wenn man so ein Heft macht. Man verkauft zwar nicht gerade Unmengen,
aber wenn Du es ehrlich meinst und zu Dir selbst stehst, bekommst Du eine kleine,
aber unglaublich treue Leserschaft. Ich kenne Leute, die damals, 1983, die erste
Ausgabe gekauft haben, und mich heute nach den Fortschritten an meinem Buch
fragen. Das ist eine unglaublich lange Zeit, und dieses Gefühl, kann man
nicht mit Geld bezahlen. Eine lustige Sache gibt’s noch: Vor mehreren Jahren
schickte ich eine Bewerbung als Autor an ein großes amerikanisches Musikmagazin.
Zu der Zeit war ich noch ziemlich naiv, ich dachte, ich könnte da ein paar
Artikel über noch unbekannte Bands schreiben. Als Antwort bekam ich: „Nun,
Du schreibst sehr gut, aber das ist nicht ausschlaggebend. Wenn Du ein Interview
mit Motley Crue bekommst, stellen wir Dich sofort ein, egal wie gut oder wie
schlecht Du bist“. Das haben die tatsächlich geschrieben. Damit war mein
Interesse an der Mitarbeit bei einem großen Magazin erschöpft. Scheiß’
drauf, es ist mein Hobby, und ich werde nur schreiben, was ich für richtig
halte, nicht das, für das mich jemand bezahlt. Das ist nicht nur einfach
so ein Job. Weil wir gerade dabei sind, das beste Fanzine, das ich momentan
kenne, ist das PTOLEMAIC TERRASCOPE aus England. Es geht in dem Heft hauptsächlich
um Psychedelic Music und auch um progressive Sachen. Was ich so cool an dem
Heft finde ist, daß sie einerseits sehr bekannte Bands bringen und gleich
auf der nächsten Seite eine Band, von der noch nie jemand gehört hat
- und beiden Bands widmen sie die gleiche Aufmerksamkeit. Wichtig ist nur, ob
die Redakteure die Band bzw. den Künstler interessant finden, ganz egal
ob sie nun populär sind oder nicht. Ein Fanzine, wo die Music an erster
und wichtigster Stelle steht, so wie es sein soll.
(Dazu möchte ich anmerken, daß ich Ray Ausführungen zum Thema
„Fanzines“ voll teile. Kann man also auch als abschließende Betrachtung
meinerseits sehen. - Martin)
PTOLEMAIC TERRASCOPE - das klingt interessant. Kannst Du mir die Adresse
und den Preis sagen?
Sicher, hier ist sie:
PTOLEMAIC TERRASCOPE
37 SANDRIDGE ROAD
MELKSHAM
WILTSHIRE SN12 7BQ
ENGLAND
Das Heft kostet 5 Britische Pfund für eine Ausgabe oder 20 Pfund für
ein Abo über vier Ausgaben. Man kann das Geld bar schicken oder einen Scheck
ausgestellt auf eine britische Bank oder eine internationale Postanweisung zahlbar
an „Ptolemaic Terrascope“. Das sind die Preise, die ich für den Postversand
von Europa nach Amerika weiß.
Jetzt liegt das Heft auf Eis, weil Du an Deinem Buch schreibst. War das
der einzige Grund?
CHAOS liegt eigentlich nicht richtig auf Eis. Es stimmt, ich habe die Arbeit
schon sehr eingeschränkt, seit ich an dem Buch arbeite, aber ich habe weiterhin
umfang- und auflagenmäßig kleinere Ausgaben herausgebracht, und das
auch ziemlich unregelmäßig. Die Nummer 32 gab’s 1995. Ich habe nur
sehr wenig Hefte von den letzten paar Ausgaben gedruckt, hauptsächlich
wegen dem Zeitaufwand und der vielen Arbeit, große Auflagen zu drucken
und zu versenden. Diese Hefte habe ich unter meine Freunden verteilt und nur
an ein paar Läden in der Umgebung verkauft. Tatsächlich hat das Buch
mittlerweile einen Großteil meiner Zeit in Anspruch genommen, und auch
die Geburt meines Sohnes Paul im März 1994 hat mein Leben ziemlich verändert.
Ihn wachsen zu sehen, sich um ihn kümmern, mit ihm spielen, das bedeutet
mir viel, und wenn ich ihn ansehe, erkenne ich, daß Musik nur ein Hobby
ist, das erst nach den wirklich wichtigen Dingen im Leben kommen kann. Ein Kind
zu haben, ist schon eine ein umwerfendes Erlebnis, und meine Frau und ich sind
sehr glücklich darüber. Jedoch wird die Musik immer eine Rolle in
meinem Leben spielen, ebenso das Schreiben. Kunst ist etwas Wertvolles, ebenso
die Meinungen, die man dazu hat, ob das nun Lob oder Kritik ist. Das gehört
zu den Idealen, die ich Paul vermitteln möchte, wenn er aufwächst.
Wahrscheinlich wird er nicht die gleiche Musik wie ich mögen, das ist auch
gut so, doch ich lege großen Wert darauf, daß er lernt, daß
man bei allen Dingen hinter das vermeintlich Offensichtliche blicken muß
und nicht einfach blind der Masse folgen darf (klingt wie ein Black Sabbath-Text
von „After Forever!!!“).
Und wie weit bist Du jetzt mit dem Buch?
Mit dem Buch geht’s langsam voran, doch ich habe einiges in den letzten paar
Monaten geschrieben. Ich beabsichtige, es in mehr als einem Band herauszugeben,
denn ich möchte noch mehr Bands/Alben/Ideen unterbringen, und wenn ich
das alles in ein Buch packen möchte, wird es nie fertig! So hoffe ich,
zuerst mal einen Band zu schaffen und in der Zukunft vielleicht noch mehr. Ich
hoffe, den ersten Band Ende 1996 vorstellen zu können. Wenn nicht ein wunderbarer,
billiger Verlag in den nächsten Monaten vom Himmel fällt, wird er
nicht das Format eines typischen Buches haben, sondern eher wie ein Fazine aussehen,
nur sehr viel länger als üblicherweise. Deshalb verwende ich eine
ziemlich kleine Schrift, die mir erlaubt, möglichst viel Text auf eine
Seite zu bringen. Ich sehe es schon kommen, daß der erste Band mindestens
100 Seiten haben wird. Ich schreibe den Text am PC, aber es wird wieder ein
Klebe-Layout sein!!! Ich weiß, ich könnte das Buch komplett am Computer
erstellen, doch ich möchte genau das Layout haben, wie es schon immer im
CHAOS zu finden war. Das heißt, es wird ziemlich roh und unprofessionell
aussehen. Damit zolle ich dem Fanzine, das ich gemacht habe, Respekt und andererseits
„protestiere“ ich damit gegen diese steril gestalteten Magazine und Bücher,
die den Markt überschwemmen und denen die ganze Technik die Seele geraubt
hat.
Wird der erste Band das Kapitel über TRUST enthalten? Du weißt
schon, warum ich frage...
Ich denke, der TRUST-Artikel wird erst in einem späteren Band erscheinen,
da er erst im letzten CHAOS war und ich mich nicht so schnell wiederholen möchte.
Ich hoffe, Du verstehst das.
Warst Du eigentlich irgendwie stolz, wenn Dein Name auf der Thanks-List
einer Band auftauchte?
Ja. Ich möchte nicht, daß das selbstherrlich klingt, aber seit ich
mit dem CHAOS begonnen habe, hatte ich meinen Namen auf vielen Thanks-Lists
in LPs und CDs. Ich glaube nicht, daß ich nun ein „wichtiger Typ“ oder
bin, nur wenn man in so vielen Jahren so viele Band kennenlernt, entwickelt
sich das halt so. Auf jede Band, die mich in ihrer Thanks-List erwähnt,
kommen vermutlich zehn andere, die mich vielleicht vergessen haben oder die
mich vielleicht für einen Schwachkopf halten, die ganze Palette. Am meisten
bin ich stolz darauf, meinen Namen auf den Thanks-Lists von zwei PAUL CHAIN
CDs lesen zu können, auf „In Concert“ und „Alkahest“. PAUL CHAIN ist der
von mir am meisten bewunderte und vollendetste Künstler, den ich kennengelernt
habe, seit ich mit Musik zu tun habe. Meinen Namen auf seiner Thanks-List zu
sehen, ist das Größte, denn wenn ich irgend etwas getan habe, um
einen Künstler seines Formats zu helfen, dann war das die ganzen Mühen
wert, die ich seit der Geburt des Fanzines auf mich genommen habe.
Du bist jetzt 37. Ist das nicht ein ungewöhnliches Alter für einen
HM-Fan? Oder möchtest Du eigentlich gar nicht in diese Schublade gesteckt
werden?
Mittlerweile bin ich 38!!! Die Zeit vergeht... Ich persönlich bin der Ansicht,
daß das Alter bedeutungslos ist. Ich denke, alles hängt von der individuellen
Sichtweise ab und wie man sich fühlt. Ich kenne Leute die gerade mal 20
sind, die weder Jugendlichkeit, Neugier oder Abenteuerlust ausstrahlen. Gleichzeitig
kenne ich Leute in den Fünfzigern, die voller Leben und Energie sind, die
eine positive Sicht des Lebens haben. Und hey, Tony Iommi ist in den Vierzigern
und macht immer noch Musik, deshalb traue ich mir zu, genügende Kraft aufzubringen,
weiterhin harte Musik zu hören und darüber zu schreiben. Ich habe
kein Problem damit, ein „Heavy Metal-Fan“ genannt zu werden. Ich liebe vieles
aus diesem Genre, warum sollte ich das dann verschweigen? Ich mag den Hard-Rock
der 70er, 80er-Jahre-Metal, die progressiven Sachen aus den 90ern, Power- und
Doom-Metal, Psychedelic- und Progressive-Kram aus den 60er und 70ern, Prog,
wie er zur Zeit gespielt wird, Psych, wie man ihn heute hört und sogar
so „abwegige“ Sachen wie Celtic-Folkmusic. Hier möchte ich die Gelegenheit
wahrnehmen um etwas zu sagen, das ich für sehr wichtig halte: Nichts ist
falsch dabei, einen favorisierten Musikstil zu haben. Ich mag halt Metal und
Hard-Rock mehr als die meiste andere Musik. Man sollte jedoch seine Ohren und
Augen nicht für Anderes verschließen. Nimm die ganze Welt wahr, höre
mit offenen Ohren. Gib’ allem zumindest eine Chance. Wenn’s Dir nicht gefällt,
mußt Du es Dir ja nicht weiter anhören, aber sag nicht von vornherein
„Nein!“, bevor Du es nicht versucht hast. Ich hätte nie gedacht, daß
ich Celtic Folk mögen würde, doch ich hätte das nie herausgefunden,
wenn ich nicht mal reingehört hätte. So ist’s passiert, daß
CONNEMARA, eine Celtic-Folk-Band hier aus der Umgebung, eine meiner absoluten
Lieblings-CDs des Jahres ‘95 herausbrachten. Niemand wird ALLES lieben, das
ist klar, aber ich denke, wenn man seine Hörgewohnheiten erweitert, wird
man an seiner Lieblings-Musikrichtung um so mehr Freude haben. Hab’ keine Angst,
etwas Neues nicht mindestens mal anzutesten.
Du arbeitest in der Buchhaltung einer Investment-Firma. Das ist ja nicht
gerade „sex, drugs and rock ‘n’ roll“, oder? Ist die Musik eine Art „Fluchtmöglichkeit“
für Dich?
Stimmt, ich verdiene meinen Lebensunterhalt in der Buchhaltung einer großen
Firma. Zuvor habe ich in einem Plattenladen gearbeitet, wie ich schon erwähnte.
Die Arbeit dort machte Spaß, speziell währden der NWOBHM und in den
frühen 80ern. Nachdem ich jedoch sieben Jahre dort gearbeitet hatte, war
ich Ende 20, und mir wurde schmerzhaft klar, daß, wenn ich heiraten und
ein Kind haben möchte, mir diese Arbeit nicht genug Geld bringen würde.
Ich bin bestimmt nicht der Typ, der die große Kohle verdienen will, aber
seien wir doch mal ehrlich: im Leben sieht es so aus, daß Du einigermaßen
verdienen muß, um vernünftig leben zu können, und wenn Du auch
noch für andere Menschen verantwortlich bist, speziell, wenn Du ein Kind
in der Zukunft erwartest, mußt Du eine Arbeit haben, die Dir auf längere
Zeit Sicherheit gibt. In der Schule hatte ich schon Spaß daran, mit Zahlen
umzugehen, und so lag die Bürotätigkeit recht nahe. In dieser Firma
habe ich eine wesentlich stabilere Zukunft, und ich kann etwas Geld für
Pauls Zukunft sparen, ebenso für unseren Ruhestand, irgendwann mal. Ich
bin immer noch so musikbegeistert, wie damals im Plattenladen, vielleicht hat
sich das sogar noch gesteigert, da ich nicht mehr den ganzen Tag mit Musik überflutet
werde. Wenn ich jetzt die Gelegenheit habe, mich mal hinzusetzen und richtig
Musik zu hören, kann ich das viel mehr schätzen. Hauptsächlich
höre ich wohl Musik auf meinem Walkman, im Bus auf dem Weg zur und von
der Arbeit. Sie hilft mir, den Tag zu beginnen und mich auf dem Heimweg zu entspannen.
Was die „sex, drugs and rock ‘n’ roll“-Sache betrifft: das war nie mein vorrangiger
Eindruck von der Musik, die ich höre. Oh ja, diese Klischees tauchen in
der Musik auf, stimmt schon, aber sie lassen mich eher an MOTLEY CRUE, POISON
usw. denken. Ich glaube, die Sichtweise, die das Massenpublikum sogar heute
noch von Metal hat, ist ziemlich mit pauschalen Vorurteilen behaftet. Ein paar
großartige Bands hatten „sex, drugs and rock ‘n’ roll“-Texte, z. B. AEROSMITH,
oder, nicht ganz so klar, BUFFALO. Jedoch: Was ist mit Bands wie RUSH, MANILLA
ROAD, LEGEND, SKYCLAD etc.? Diese lassen sich nicht so leicht in die Schublade
„laute Gitarrenmusik“ stecken! Aber zurück zu Deiner ursprünglichen
Frage. Sicher, Musik kann eine Art „Fluchtmöglichkeit“ für mich sein.
Täglich muß man mit vielen Problemen fertig werden, daher ist es
wundervoll, mit Kunst einen Ausgleich schaffen zu können. Musik erfüllt
bestimmt diese Funktion für mich!
Wir hatten schon mal eine Diskussion darüber: Glaubst Du, daß
es so etwas wie „typisch amerikanisch“ gibt? Und glaubst Du, daß etwas
„typisch deutsch“ ist?
„Typisch amerikanisch“? Ha, ha, keine Ahnung. Speziell auf die Musik bezogen
ist es wohl charakteristisch für Amerika auf jeden neuen Trend aufzuspringen.
Thrash, Grunge, Rap, um alles wurde ein ziemlicher Wirbel gemacht, alles wurde
für eine gewisse Zeit larger than life und zwei Jahre später war’s
denn Leuten wieder egal. METALLICA wurden hier ziemlich populär, darum
waren die Plattenlabels wie verrückt darauf aus, jede Band zu signen, die
wie sie klang, ob sie jetzt gut war oder nicht. Das Gleiche bei SOUNDGARDEN
und PEARL JAM. Das Gleiche bei ICE-T. Das Gleiche bei HOOTIE & THE BLOWFISH.
Reine Gier, und leider scheint das hier sehr typisch zu sein. Das schnelle Geld
machen. Ich kenne die deutschen Verhältnisse nicht im Einzelnen, aber ich
weiß, daß gerade eine große Anzahl von Progressive-, Power-
und Doom-Metal auf deutschen Labels wie Dream Circle, Hellhound und WWMS herauskommt,
was mich zu der Annahme verleitet, daß bei euch drüben etwas mehr
Toleranz für verschiedene Musikrichtungen vorherrscht. Abgesehen von der
Musik und der eigentlichen Kultur der beiden Staaten, bin ich mir nicht sicher,
was „typisch“ ist. Ich meine, ich bin nicht so blöd zu glauben, daß
alle Deutschen den ganzen Tag im Biergarten herumstehen, Bratwurst essen und
sich mit großen Biergläsern zuprosten!!! Tatsächlich glaube
ich, ein paar Amerikaner sehen das vielleicht so. Die amerikanischen Medien
geben manchmal ein verzerrtes Bild von dem, wie das Leben in Übersee ist,
und die oft sind die Leute kritiklos genug, um das zu glauben. Ich war nie in
Deutschland, aber in Belgien, England und Südfrankreich. Ich habe dort
alle möglichen Menschen getroffen, einige freundlich, einige nicht, sie
haben verschiedene Ansichten und Meinungen, genauso wie hier. Natürlich
gibt’s auch Unterschiede. Eine Sache, bei der es nicht so sehr um den Einzelnen
geht, sondern eher um die Gesellschaft, ist die Möglichkeit, hier bei uns
sehr leicht eine Schußwaffe kaufen zu können. In den USA ist das
unglaublich einfach, überall haben die Leute Feuerwaffen, was in meine
Meinung nach ans Absurde grenzt. Sie werden nicht nur für Verbrechen benutzt,
was hier nichts Außergewöhnliches ist, sondern sie können auch
in die Hände von Kindern gelangen und dann tragische Unfälle verursachen.
Das ist hier ebenfalls nichts Außergewöhnliches. Das rechne ich Deutschland
und allen anderen Staaten, die das nicht erlauben, sehr hoch an. Sie handeln,
meiner Ansicht nach, nur nach dem gesunden Menschenverstand.
METALLICA wurde in diesem Interview nun zwei Mal erwähnt. Was denkst
Du über ihre Entwicklung seit der „Master Of Puppets“? Kennst Du schon
das neue Album?
Ich denke, mit „... And Justice For All“ hatten sich METALLICA so weiterentwickelt,
wie ich es gehofft hatte. Das Album war ziemlich gut und führte den rauhen
und dennoch progressiven Stil fort, der auf „Master Of Puppets“ schon ansatzweise
vorhanden war. Der Titelsong und „Shortest Straw“ waren von ihrer Struktur her
einmalig und blieben mir im Gedächtnis hängen. Die Rhythmus blieb
nie gleich und es kam kaum Langeweile auf. Rückblickend denke ich, daß
Cliff Burton sehr stark auf „... And Justice...“ präsent ist, was das Songwriting
und die Arrangements angeht, obwohl er einige Zeit vor den Aufnahmen gestorben
ist. Das wird um so deutlicher, wenn man sich das Nachfolgealbum ansieht, das
„schwarze Album“. Verglichen mit den Vorgängern ist dieses Album absolut
grauenhaft. Das Songwriting verkam zu simpelster Machart und wenn Du im Wörterbuch
unter „Langeweile“ nachschlägst, wirst Du ein Bild dieser Platte finden.
Abgesehen von „Sad But True“ und „The Unforgiven“ gibt es auf dem Album nichts,
was die Sache wieder gutmachen könnte. Fast jeder Song auf dem Album hat
die gleiche Geschwindigkeit, mit Ausnahme des letzten, der wie eine armselige
TESTAMENT-Kopie klingt. Ich habe bisher nur einen Song aus dem neuen Album gehört,
und der war OK, aber ich kann mir noch keine abschließende Meinung bilden.
Alles in allem glaube ich, daß Cliff wesentlich mehr mit dem Songwriting
und den Arrangements zu tun hatte, als unter den credits vermerkt war.
Ich denke, viele der Ideen für „Justice“ waren schon vor seinem Tod entstanden,
und das ist der Grund, warum dieses Album so stark war. Als der Rest der Band
nun beim „schwarzen Album“ auf sich selbst gestellt war, war ihr die Grundlage
entzogen. Das ist zumindest meine Theorie. Ich kannte Cliff nicht persönlich,
aber ich habe einige Interviews mit ihm gelesen, und darum könnte ich es
mir kaum vorstellen, seinen Namen auf einer energielosen und lethargischen Platte
wie dem 91er Album zu finden.
Nachtrag: Ich habe gerade das neue METALLICA-Album „Load“ einige Male angehört,
und ich muß sagen, das hier ist noch schlechter, als das „schwarze Album“!
This band has gone from being innovators to trend-followers - a disaster!!!
They’ve totally lost their way. I think Cliff would be horrified.
(Muß ich die letzten beiden Sätze noch übersetzen? Mit seinem
Statement zur neuen METALLICA hat mir Ray die lästige Arbeit abgenommen,
selbst eine Kritik über ein Album zu schreiben, das ich mir selbst niemals
kaufen werde. - Martin)
Willst Du nun MIR eine Frage stellen?
Ja, ich möchte Dich in Bezug auf die vorletzte Frage etwas fragen.
Glaubst Du, daß an dem, was ich über die Musik bei euch vermutet
habe, etwas dran ist - verglichen mit den Zuständen hier? Warum glaubst
Du ist es für viele Progressive- und Power-Metal-Bands (einschließlich
amerikanischer!) einfacher bei euch Platten zu veröffentlichen? Glaubst
Du, daß die Musikszene bei Euch toleranter und weniger trendy ist,
als in den USA? Was ich damit meine: Warum ist es für eine Band wie SKYCLAD
ziemlich einfach, in Europa 7 Alben herauszubringen - und in Amerika muß
sie hart um ein Album kämpfen, und bekommt dafür keine Promotion?
Außerdem haben amerikanische Bands wie MIND OVER 4 und PSYCHOTIC WALTZ
mehr Erfolg in Europa als im eigenen Land. Warum? Wie siehst Du das Problem
des freien Zugangs zu Schußwaffen. In den Städten hier liefern sich
die Drogenhändler Straßenkämpfe, wobei Kinder bei den Schußwechseln
verletzt oder getötet werden. Gibt es da eine Lösung? Gibt es etwas
Vergleichbares bei euch?
Nun, ich möchte mich nicht als „Musikexperten“ bezeichnen, ich gebe
hier also nur meine persönliche, subjektive Meinung wieder. Ich glaube,
in Deutschland oder Europa haben die Leute noch einen stärkeren Bezug zur
„klassischen“, zeitlosen Rock-Musik und sind deshalb nicht so sehr auf Trends
angewiesen. Und PSYCHOTIC WALTZ, zum Beispiel, sind „classic Rock“ der 70er,
wenn das auch auf den ersten Blick nicht so erscheint. Vielleicht ist es auch
so, daß die Volksmusik der einzelnen Länder immer noch einen unbewußten
Einfluß hat, schließlich war sie jahrhundertelang die Musik, die
die Menschen hörten und selbst spielten. Diese gewachsene Vielfalt auf
relativ kleinem Raum ist wohl ein großer Unterschied zu den Vereinigten
Staaten. Möglicherweise ist das ein Grund für den Erfolg von SKYCLAD,
die starke keltische Folk-Einflüsse haben. Ein anderes Beispiel sind die
LEVELLERS oder NEW MODEL ARMY. Ein Trend (oder mehr als nur das), ist die Techno-Welle
in Europa und speziell in Deutschland. Diese „Musik“ hat für mich außer
„Be happy and dance“ keine Aussage. Ich halte Techno für Geräuschartikulation
auf primitivster suggestiver Ebene (manche mögen diese Meinung in Bezug
auf HM haben...) ohne Tradition mit einer künstlichen attitude. Manchmal
finde ich das sogar beängstigend.
Was Schußwaffen betrifft, ist es in Deutschland nicht leicht, eine
Genehmigung zu bekommen. Illegal kann man sich sicher Waffen beschaffen. In
den großen Städten wie Berlin oder Frankfurt macht sich die organisierte
Kriminalität breit, doch im Vergleich zu New York ist es hier wohl eher
friedlich. Ich persönlich bin strikt dagegen, Waffen leichter zugänglich
zu machen, keine Frage. Ich weiß nicht, ob es da eine Lösung gibt,
denn soweit ich weiß, gehört Waffenbesitz irgendwie zur amerikanischen
Tradition (wie die Biergärten in Deutschland, ha, ha) und die meisten Amerikaner
wollen diese auch nicht aufgeben. Mir fällt da ein Text von NEW MODEL ARMY
ein, nämlich „51st State“: „We're W.A.S.Ps, proud American sons. We know
how to clean our teeth and how to strip down a gun“. Vielleicht sind noch
nicht genug Kinder getötet wurden, um es mal zynisch auszudrücken.
Noch ein paar letzte Worte an unsere Leser, Ray.
Be true to yourselves, once again. Vertretet nur Meinungen und Ansichten, zu
denen ihr wirklich steht. Paßt euch nicht der Masse an, seid nicht wie
die anderen. Das ist ein Grundsatz, den die Menschen in ihrem ganzen Leben beherzigen
sollten, nicht nur in der Musik. Hinterfragt, was euch vorgesetzt wird! Respektiert
alle Menschen als Individuen; seid gesprächsbereit. Die Meinung eines jeden
Menschen ist wichtig. Danke für die Möglichkeit in eurem Fanzine zu
sein, Martin, und Danke an eure Leser, daß sie sich die Zeit genommen
haben, meine Worte zu lesen. Halte mich über das Fanzine auf dem Laufenden
und wenn alles klappt, wird mein Buch auch bald am Horizont erscheinen.
Ich habe Ray ebenfalls für seine sehr ausführlichen Antworten
zu danken. Wenn ihr Kontakt mit ihm aufnehmen wollt, besucht ihr ihn am Besten
auf seiner Homepage, wo die aktuelle mail-Adresse zu finden ist.