Der Hype um einen angeblich besonders sensationellen Film scheint dann am größten
zu sein, wenn eine überdurchschnittlich hohe Summe an Gewinn eingespielt
wird. Kurz vor dem deutschen Kinostart von BLAIR WITCH PROJECT lag der Film
in den USA bei ca. 150 Millionen Dollar, bei geschätzten 50 – 60000 Dollar
Produktionskosten ein astronomisch hoher Gewinn, der allein schon Aufmerksamkeit
für das Projekt garantiert. Die Entstehungsgeschichte dürfte bekannt
sein: Auf einer Homepage im Internet wurden gezielt erste Informationen über
drei Filmstudenten verbreitet, die während der Dreharbeiten zu einem
Dokumentarfilm auf mysteriöse Weise verschwunden seien. Über den
angeblichen Fluch der „Blair Witch“, Gegenstand des Films, und das Verschwinden
der Studenten würde das gefundene, bereits gedrehte Material Aufschluß
geben.
Sieht man vor dem eigentlichen Film zuerst die auf der US-DVD enthaltene Rekonstruktion
der unglaublich erscheinenden Geschichte, könnte man der Schauermär
glatt auf den Leim gehen. Mit fiktiven Lebensläufen oder Fake-Interviews
mit Uni-Professoren der drei vermißten Studenten durchsetzt, dazu als
wohldosierter „Beweis“ einige Ausschnitte aus dem gefundenen Material, ist
diese „Dokumentation“ natürlich ebenso eine Illusion wie der Hauptfilm,
bei näherer Betrachtung allerdings sogar besser, weil der Kern der Geschichte
(die Camcorder-Aufnahmen) nur stückweise preisgegeben wird und die drei
Filmemacher fast wie real existierende Personen erscheinen.
Der Film BLAIR WITCH PROJECT dagegen nimmt sich, obwohl zweifellos geschickt
gedreht, selbst einiges von seiner möglichen „Authentizität“, weil
er zuviel an Material zeigt, das Verlangen des Zuschauers nach „echten“ Bildern
zu stark bedient. Hält man sich Filme wie CANNIBAL HOLOCAUST, MANN BEISST
HUND, TESIS oder ein Exponat aus der umstrittenen Galerie von „Shockumentaries“
wie GESICHTER DES TODES vor Augen, so spielt darin immer der Wunsch, genauer
die voyeuristische Nachfrage nach Unverfälschtem, also Authentischem
eine Rolle. Selbst bei Filmen wie GESICHTER DES TODES, die aus naheliegenden
Gründen mit dem Etikett „echt“ werben (weil sie sonst relativ wenig zu
bieten hätten), ist das entsprechende Material aber oft gestellt, da
die „interessanten“ Ereignisse nicht so detailliert wie erwünscht im
Bild festgehalten wurden und man sie deshalb, wie es so schön heißt,
aus „dramaturgischen Gründen“ nachstellen mußte.
Die inszenatorischen Tricks zur Schaffung von Echtheit sind bekannt. Es ist
durchaus interessant, sich „Todes-Dokumentationen“ z.B. daraufhin anzusehen,
wieviele der einschlägigen Todesszenen, angeblich rein zufällig
von Amateurfilmern festgehalten, plötzlich mehrere Kamerapositionen bieten,
wenn es ans Eingemachte geht. Paradoxerweise wirkt die inszenierte Realität
auf den Betrachter nicht selten interessanter als die Wirklichkeit oder warum
haben wir früher bei AKTENZEICHEN XY nach den drei im Filmbeitrag präsentierten
Fällen immer gleich umgeschaltet, weil danach nur noch von schnauzbärtigen
Polizeibeamten in holprigem Deutsch simple, mit wenig aufregenden Phantombildern
garnierte Fahndungsmeldungen verlesen wurden? Da fehlte ganz einfach für
den Voyeur in uns der echte Genuß, weil sowohl zuviel als auch zuwenig
an Information die Illusion zerstören kann.
Unter dieser Prämisse funktioniert auch BLAIR WITCH PROJECT eben nur
bedingt, weil er sich an entscheidenden Stellen selbst ein Bein stellt. Der
Film beginnt mit einigen privaten Aufnahmen der drei Studenten, bevor dann
erste Interviews mit Passanten und Moderationen der Regisseurin hinzukommen.
Zusammen mit ihren beiden Begleitern macht sie sich dann auf den Weg in die
ausgedehnten Wälder, in denen die „Blair Witch“ vor Jahrhunderten angeblich
gelebt haben soll. Als sich die Studenten verlaufen und auch Karte und Kompaß
nicht mehr weiterhelfen, treten innerhalb der Gruppe die ersten, immer massiver
werdenden Spannungen auf. Mysteriöse Geräusche und Gegenstände
wie offenbar nach einem bestimmten Muster/Ritual aufgeschichtete Steinhaufen
treiben die Beteiligten von gesteigerter Nervosität zu blanker Panik,
bis schließlich sogar ein Mitglied der Gruppe verschwindet. Das Ende
(?) der Geschichte sollte man nicht verraten, es muß ja noch ein letzter
Rest Nervenkitzel für jene übrigbleiben, die den Film noch nicht
gesehen haben. Ohne das Wissen, einem (zugegeben sehr gut inszenierten) Schwindel
aufzusitzen, könnte man das Gezeigte zunächst tatsächlich für
real halten. Die Darsteller spielen gut bis hervorragend und lassen die sich
langsam überschlagenden Emotionen glaubhaft erscheinn, was aber wohl
nur für die Originalfassung gilt, in synchronisierter Form dürfte
vieles an Unmittelbarkeit verlorengehen. Unglaubwürdig wird es allerdings
dann, wenn die Darsteller jeden noch so unwichtigen Streit mitfilmen, was
zwar für den Film durchaus Sinn macht (der Zuschauer soll/muß die
psychologische Entwicklung ja sehen), aber gemessen an der Situation unlogisch
ist. Wieso verpulvern die drei Studenten ihre Akkus und Kassetten, die sie
nur in begrenzter Menge vorrätig haben, für das Filmen von sinnlosen
Diskussionen, wenn sie eigentlich eine Dokumentation drehen wollen? Denkt
man in einer Phase zunehmender nervlicher Anspannung wirklich als erstes daran,
auch stets die Kamera dazu laufen zu lassen?
Die Krönung dieser Fragen ist ein nächtlicher Überfall eines
unbekannten Wesens (Mensch/Tier/Geist) auf das Zelt der Studenten, bei dem
die Leiterin der Gruppe laut schreiend in den Wald flieht. Eine natürliche
Reaktion zwar, in einer solchen Situation ohne Sinn und Verstand einfach irgendwohin
zu laufen, doch was soll man davon halten, wenn die Kamera, d.h. der Teamkollege
nichts Besseres zu tun hat, als ihr zu folgen? Man fühlt sich ein bißchen
an Sam Raimis THE EVIL DEAD (Tanz der Teufel) erinnert, wie dort die Kamera
ihren Opfern in atemberaubenden Fahrten durch das Unterholz hinterraste. Hier
sind die Macher von BLAIR WITCH PROJECT einfach in bewährte Horrorfilmklischees
verfallen und nehmen so ihrem Film einiges an Wirkung. Auch am Ende, als die
beiden Studenten auf die Spur ihres zuvor verschwundenen Freundes stoßen,
wird trotz äußerster Angst immer hübsch mitgefilmt, was vielleicht
die Spannungskurve erhöht, aber dem eigentlichen Konzept des Films zuwiderläuft
(er bricht dann auch relativ ergebnislos und offen ab).
Schon vor dem Ende ist BLAIR WITCH PROJECT strenggenommen eigentlich gescheitert,
weil er nach dem Anheizen des Zuschauers (Personen verschwinden, was ist passiert
usw.) einfach zuviel zeigt und kaum mehr etwas der Imagination überläßt.
Konsequenter wäre es gewesen, nur relativ banale Aufnahmen zu zeigen,
das eigentliche Geheimnis des Geschehens bestenfalls anzudeuten und am Ende
beispielsweise Fotos oder Zeitungsberichte vom Auffinden des Filmmaterials
und sonstiger Gegenstände durch die örtliche Polizei zu zeigen.
Auf diese Weise hätte man, das Stillschweigen aller Beteiligten vorausgesetzt,
vielleicht den Hype noch ausbauen und das Rätsel dann um so publicityträchtiger
zu einem späteren Zeitpunkt auflösen können.
Sehenswert ist BLAIR WITCH PROJECT aber trotzdem, schon allein weil er so
erfrischend anders ist als das, was man im Bereich Horrorfilm sonst so aus
den USA gewohnt ist (vor allem die zahlreichen Teenie-Slasher nach Wes Cravens
SCREAM langweilten ziemlich). Was die Umsetzung der Idee angeht, sind Filme
wie CANNIBAL HOLOCAUST (als Generalkritik) oder die spanische Produktion TESIS
(als Thriller) weitaus stärker, bei BLAIR WITCH PROJECT dagegen ist eher
das Sichtbarwerden des paradoxen Voyeurs im Menschen interessant. Mal ehrlich:
Eine solche Geschichte ist viel zu spannend, um einfach übergangen zu
werden, man interessiert sich fast automatisch dafür. Der Voyeur in uns
verlangt nach mehr Information, nach der totalen Demaskierung, steht dahinter
dann aber nur ein gut gemachter, teilweise unlogischer Horrorfilm, bleibt
ein Gefühl der Unzufriedenheit zurück. Man hat zwar alles erfahren,
was man wissen wollte, aber es war eben doch nicht alles und auf der anderen
Seite schon wieder zuviel an gelüfteten Geheimnissen. Manchmal ist es
spannender, weniger zu wissen, den spannenden Rest besorgt die Phantasie.
- Stefan - 06/01
Tja, Voyerismus hin, Unlogik in der Handlung her, als ich den Film im Kino
sah, hat er mir eine Scheißangst eingejagt. Damals, im Herbst '99 dürfte
das gewesen sein, waren meine Mitbewohnerin und ich mit einem beklemmenden Gefühl
vom Cinemaxx nach Hause geradelt. Ich mußte danach noch Wäsche aus
dem Trockenraum im Keller holen, nachts um kurz vor zwölf... allein...
wenn keiner dich schreien hört...
Blair Witch Project wirkt nur beim ersten Ansehen richtig, denn er spricht mit
archaischen Symbolen menschliche Urängste an. Die Parallelen zum Märchen
von „Hänsel und Gretel“, in dem die Brüder Grimm nur alte Volksmythen
aufgriffen, liegen auf der Hand. Da ist der dunkle Wald, aus dem es keinen Ausweg
gibt, die erschreckende Erfahrung, im Cyberspace-Zeitalter plötzlich von
der Zivilisation ausgeschlossen zu sein. Oder die Hexe, oder genauer: das unbekannte
Wesen in diesem Wald (es werden im Film unterschiedliche Beschreibungen der
Hexe von Blair gegeben). Und schließlich das Hexenhaus, welches im Film
das ehemalige Haus des mehrfachen Kindermörders ist. Nur gibt es in Blair
Witch Project keine rettenden Brotkrumen, die den Weg aus dem Wald weisen könnten,
keine Hexe, die auf den Trick mit dem Knochen reinfällt. Der Film ist gerade
so lang, daß der Terror schrittweise gesteigert werden kann, ohne daß
der Zuschauer Gelegenheit hat, hinter die ihm zu Grunde liegenden Muster zu
blicken.
Ich kenne nur die deutsche Fassung, kann mir aber durchaus vorstellen, daß
der Film im Original noch stärker in die Eingeweide greift.
- Martin - 06/01