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KRAFTWERK: Die Mensch-Maschine (EMI, 1978)

"Ohne Kraftwerk hätte es 99% des heutigen Pop gar nicht gegeben. Hip Hop, House, Drum & Bass, Breakbeat, Big Beat, Techno, Dance etc. würden ohne Ralf Hütter und Florian Schneider nicht existieren." (Chris Garland/Zonk, in: Text und Ton 4/2000)

1970 gründen Ralf Hütter und Florian Schneider in Düsseldorf nach dem Umweg über die Band "Organisation" ein Projekt, das als die Geburtsstunde der elektronischen Popmusik angesehen wird: KRAFTWERK. Die Band setzt in der Folgezeit musikalische Standards, die auf viele Gruppen bis heute einen prägenden Einfluß ausüben und Kraftwerk neben Can und den Einstürzenden Neubauten zur international anerkanntesten deutschen Musikformation machen. So oder so ähnlich würde ein Musiklexikon Kraftwerk beschreiben.

Bei Ivan Novak, Sänger der slowenischen Avantgardisten Laibach geht die Verehrung gleich soweit, in Kraftwerk die wichtigste Band aller Zeiten zu sehen, nach ihnen sei in der Popmusik nichts wirklich Neues mehr entstanden. In der Tat erscheint die Klangästhetik von Kraftwerk wie eine Blaupause für musikalische Strömungen, die erst lange Jahre später in voller Blüte stehen sollten, Techno etwa, aber auch der Synthie-Pop der 80er Jahre. Aus wohlhabenden Verhältnissen stammend richten Hütter und Schneider in Düsseldorf ihr eigenes Studio "Kling Klang" ein. Mit damals neuartigen Instrumenten und technischen Effekten kreieren sie einen Sound, der ihrem Wunsch nach einer eigenen kulturellen Identität entspringt.

Die deutsche Musikszene der 50er und 60er Jahre vor Augen, mit all ihren Beatgruppen, die sich meist damit begnügten, ihren anglo-amerikanischen Vorbildern nachzueifern oder praktischerweise deren Songs gleich zu covern, schufen Kraftwerk zusammen mit anderen "Krautrock"-Bands etwas bewußt Anderes und Neuartiges. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Verweis auf die Bauhaus-Philosophie, auf die Idee einer Verschmelzung von Kunst und Technologie im Zeitalter der Moderne. Entsprechend maschinell und unpersönlich klingen dann auch Stücke wie "Die Roboter" oder "Die Mensch-Maschine". Kraftwerk umgeben sich mit einer unnahbaren, technischen Aura, angefangen mit der Gestaltung von Plattencovern, in ihrer Präsentation nach außen oder bei Konzerten mit dazu passendem, futuristischem Bühnendesign.


"Kraftwerk ... hätten niemals englisch sein können. Es war der Ausdruck eines Konfliktes im deutschen Charakter, zwischen Ordentlichkeit und extremer Romantik, zwischen Intellekt und wilder Verrücktheit. Kraftwerks Musik war so kühl, daß sie heiß war, es war deutsche Soul Musik." (Zitat s.o.)


Klangreinheit in Perfektion präsentiert sich auf dem Album "Die Mensch-Maschine". Abgesehen vom dritten Track "Metropolis" (leichte Schwächen in der B-Note) wirken alle Stücke bis ins letzte Detail festgelegt, in ihrem Aufbau ebenso logisch wie genial präzise. Für den Konsumenten normaler Charts-Popmusik müssen Kraftwerk zu diesem Zeitpunkt (1978 = Ausläufer der Hippie-Zeit, Discowelle, Punk faßt auch in Deutschland Fuß) wie Musik von einem anderen Planeten, wie eine Band aus der Zukunft geklungen haben. Verzerrte Computerstimmen, kalt und steril wirkende Klanggebäude, sehr knappe und scheinbar bedeutungsarme, nur die Musik unterstützende Texte - dargeboten in einer völlig einzigartigen Atmosphäre, zeitlos begeisternd. Besonders herausragend auf einem Album ohne ein einzigen schlechten Song sind "Spacelab", das von Rammstein zumindest originell gecoverte "Das Modell" (im Original ein Nr. 1-Hit in England) und "Neonlicht", ein neun Minuten dauernder, imaginärer Endlos-Trip durch das Lichtermeer einer nächtlichen Großstadt. Wie besessen scheinen Kraftwerk in die "Neonlicht"-Melodie versunken zu sein, als wollten sie nie wieder damit aufhören.

Auf das 1991 erschienene Remix-Album schaffte es überraschenderweise nur ein einziges Stück, der Opener "Die Roboter", obwohl sich gerade "Spacelab" mit seinen an heutigen Techno erinnernden Rhythmusfolgen für eine Neubearbeitung angeboten hätte. Das letzte reguläre Album von Kraftwerk erschien im Jahr 1986, erst zur Expo 2000 gab es mit dem offziellen Jingle und der gleichnamigen Mini-CD wieder ein Lebenszeichen von Hütter und Schneider, deren ehemalige Mitstreiter Karl Bartos und Wolfgang Flür längst eigene musikalische Wege verfolgen. Ob es tatsächlich noch einmal eine vollständige CD der Düsseldorfer Klangästheten geben und vor allem wann diese erscheinen wird, ist neben der Traditionspflege der Hauptdiskussionspunkt der weltweiten Kraftwerk-Gemeinde geworden. Es scheint so, als habe sich der Genius der frühen Jahre zusehends in Ratlosigkeit ob der zukünftigen musikalischen Richtung verflüchtigt. Vielleicht hat auch die "Aufgabe des Bandprinzips zugunsten eines Klangdesigns" (Holger Czukay von Can) die Kraftwerker in eine kreative Isolation getrieben, zumindest beklagte ein früheres Mitglied, daß die Gruppe so sehr in sich selbst isoliert gewesen sei, daß sie am Schluß für die 40 Minuten Musik von "Electric Cafe" (1986) gleich mehrere Jahre benötigte. Seitdem ist Stau auf der Autobahn.

In den letzten 10 Jahren sind Kraftwerk in der deutschen Musikszene ziemlich untergegangen. Teilweise exhumieren MTViva noch die Clips zu Songs wie "Das Modell" oder "Tour de France" in einschlägigen Spartensendungen. Das Honorar von 400 000 DM für die Komposition des Expo 2000-Werbejingles erregte immerhin den Argwohn von Gerhard Schröder, der lieber Bekanntschaften mit den Scorpions pflegt und so unter Beweis stellt, daß er zumindest von guter Musik keine Ahnung hat. Wenigstens die akustische Kreuzigung durch schlechte Coverversionen (siehe No Angels, Blümchen) blieb Kraftwerk bisher erspart. Das Album "Die Mensch-Maschine" gibt es aktuell als Anheizer zum Sonderpreis, die Longplayer nach "Autobahn" (1974) sind auf CD erschienen.

- Stefan - 11/01, überarbeitet 05/02