"Ohne
Kraftwerk hätte es 99% des heutigen Pop gar nicht gegeben. Hip Hop, House,
Drum & Bass, Breakbeat, Big Beat, Techno, Dance etc. würden ohne Ralf Hütter
und Florian Schneider nicht existieren." (Chris Garland/Zonk, in: Text und
Ton 4/2000)
1970 gründen Ralf Hütter und Florian Schneider in Düsseldorf nach dem Umweg
über die Band "Organisation" ein Projekt, das als die Geburtsstunde
der elektronischen Popmusik angesehen wird: KRAFTWERK. Die Band setzt in der
Folgezeit musikalische Standards, die auf viele Gruppen bis heute einen prägenden
Einfluß ausüben und Kraftwerk neben Can und den Einstürzenden Neubauten
zur international anerkanntesten deutschen Musikformation machen. So oder
so ähnlich würde ein Musiklexikon Kraftwerk beschreiben.
Bei Ivan Novak, Sänger der slowenischen Avantgardisten Laibach geht die Verehrung
gleich soweit, in Kraftwerk die wichtigste Band aller Zeiten zu sehen, nach
ihnen sei in der Popmusik nichts wirklich Neues mehr entstanden. In der Tat
erscheint die Klangästhetik von Kraftwerk wie eine Blaupause für musikalische
Strömungen, die erst lange Jahre später in voller Blüte stehen sollten, Techno
etwa, aber auch der Synthie-Pop der 80er Jahre. Aus wohlhabenden Verhältnissen
stammend richten Hütter und Schneider in Düsseldorf ihr eigenes Studio
"Kling Klang" ein. Mit damals neuartigen Instrumenten und technischen Effekten
kreieren sie einen Sound, der ihrem Wunsch nach einer eigenen kulturellen
Identität entspringt.
Die
deutsche Musikszene der 50er und 60er Jahre vor Augen, mit all ihren Beatgruppen,
die sich meist damit begnügten, ihren anglo-amerikanischen Vorbildern nachzueifern
oder praktischerweise deren Songs gleich zu covern, schufen Kraftwerk zusammen
mit anderen "Krautrock"-Bands etwas bewußt Anderes und Neuartiges.
Interessant ist in diesem Zusammenhang der Verweis auf die Bauhaus-Philosophie,
auf die Idee einer Verschmelzung von Kunst und Technologie im Zeitalter der
Moderne. Entsprechend maschinell und unpersönlich klingen dann auch Stücke
wie "Die Roboter" oder "Die Mensch-Maschine". Kraftwerk umgeben sich mit einer
unnahbaren, technischen Aura, angefangen mit der Gestaltung von Plattencovern,
in ihrer Präsentation nach außen oder bei Konzerten mit dazu passendem,
futuristischem Bühnendesign.
"Kraftwerk ... hätten niemals englisch sein können. Es war der Ausdruck
eines Konfliktes im deutschen Charakter, zwischen Ordentlichkeit und extremer
Romantik, zwischen Intellekt und wilder Verrücktheit. Kraftwerks Musik war
so kühl, daß sie heiß war, es war deutsche Soul Musik." (Zitat s.o.)
Klangreinheit in Perfektion präsentiert sich auf dem Album "Die Mensch-Maschine".
Abgesehen vom dritten Track "Metropolis" (leichte Schwächen in der B-Note)
wirken alle Stücke bis ins letzte Detail festgelegt, in ihrem Aufbau ebenso
logisch wie genial präzise. Für den Konsumenten normaler Charts-Popmusik müssen
Kraftwerk zu diesem Zeitpunkt (1978 = Ausläufer der Hippie-Zeit, Discowelle,
Punk faßt auch in Deutschland Fuß) wie Musik von einem anderen Planeten, wie
eine Band aus der Zukunft geklungen haben. Verzerrte Computerstimmen, kalt
und steril wirkende Klanggebäude, sehr knappe und scheinbar bedeutungsarme,
nur die Musik unterstützende Texte - dargeboten in einer völlig einzigartigen
Atmosphäre, zeitlos begeisternd. Besonders herausragend auf einem Album ohne
ein einzigen schlechten Song sind "Spacelab", das von Rammstein zumindest
originell gecoverte "Das Modell" (im Original ein Nr. 1-Hit in England) und
"Neonlicht", ein neun Minuten dauernder, imaginärer Endlos-Trip durch das
Lichtermeer einer nächtlichen Großstadt. Wie besessen scheinen Kraftwerk in
die "Neonlicht"-Melodie versunken zu sein, als wollten sie nie wieder damit
aufhören.
Auf das 1991 erschienene Remix-Album schaffte es überraschenderweise
nur ein einziges Stück, der Opener "Die Roboter", obwohl sich
gerade "Spacelab" mit seinen an heutigen Techno erinnernden Rhythmusfolgen
für eine Neubearbeitung angeboten hätte. Das letzte reguläre
Album von Kraftwerk erschien im Jahr 1986, erst zur Expo 2000 gab es mit dem
offziellen Jingle und der gleichnamigen Mini-CD wieder ein Lebenszeichen von
Hütter und Schneider, deren ehemalige Mitstreiter Karl Bartos und Wolfgang
Flür längst eigene musikalische Wege verfolgen. Ob es tatsächlich
noch einmal eine vollständige CD der Düsseldorfer Klangästheten
geben und vor allem wann diese erscheinen wird, ist neben der Traditionspflege
der Hauptdiskussionspunkt der weltweiten Kraftwerk-Gemeinde geworden. Es scheint
so, als habe sich der Genius der frühen Jahre zusehends in Ratlosigkeit
ob der zukünftigen musikalischen Richtung verflüchtigt. Vielleicht
hat auch die "Aufgabe des Bandprinzips zugunsten eines Klangdesigns"
(Holger Czukay von Can) die Kraftwerker in eine kreative Isolation getrieben,
zumindest beklagte ein früheres Mitglied, daß die Gruppe so sehr
in sich selbst isoliert gewesen sei, daß sie am Schluß für
die 40 Minuten Musik von "Electric Cafe" (1986) gleich mehrere Jahre
benötigte. Seitdem ist Stau auf der Autobahn.
In den letzten 10 Jahren sind Kraftwerk in der deutschen Musikszene ziemlich
untergegangen. Teilweise exhumieren MTViva noch die Clips zu Songs wie "Das
Modell" oder "Tour de France" in einschlägigen Spartensendungen.
Das Honorar von 400 000 DM für die Komposition des Expo 2000-Werbejingles
erregte immerhin den Argwohn von Gerhard Schröder, der lieber Bekanntschaften
mit den Scorpions pflegt und so unter Beweis stellt, daß er zumindest
von guter Musik keine Ahnung hat. Wenigstens die akustische Kreuzigung durch
schlechte Coverversionen (siehe No Angels, Blümchen) blieb Kraftwerk
bisher erspart. Das Album "Die Mensch-Maschine" gibt es aktuell
als Anheizer zum Sonderpreis, die Longplayer nach "Autobahn" (1974)
sind auf CD erschienen.
- Stefan - 11/01, überarbeitet 05/02