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(1972)

„Keine Macht für Niemand“ war der Soundtrack zu den Hausbesetzungen, zu der Zeit, als unser Außenmininster noch militant war. Die 70er-Jahre, die ich 90 Prozent physisch miterlebt habe, an die ich aber keine großartigen Erinnerungen habe, außer an orange Tapeten (und Vorhänge und Kleidungsstücke und Möbel und... ), Schlaghosen und Frisuren, bei denen man nicht sagen konnte, wo die Kopfbehaarung aufhörte und der Bartwuchs anfing.

„Keine Macht für Niemand“ ist Rockmusik gespielt von Leuten, die von den Stones oder von MC5 („Kick Out The Jams“, 1969) begeistert waren. Solche Musik mit linksradikalen Texten zu verbinden, war jedoch neu in Deutschland. Das zweite Album der SCHERBEN dürfte ihr bekanntestes sein. Der Albumtitel ist selbst jenen ein Begriff, die noch nie von der Band gehört haben, ebenso der Titel eines Songs aus dem ersten Album „Warum geht es mir so dreckig“ von 1971: „Macht kaputt was euch kaputt macht“. Erstaunlich ist das auch deswegen, weil TSS, von ein paar Untergrundblättern abgesehen, in der Musikpresse jener Zeit nicht besprochen wurden. 
Der Traum von Anarchie und der besseren Welt, in der alle gleich sind, und die kommt, wenn man nur dafür kämpft - das ist ja alles ziemlich naiv, wenn wir mal ehrlich sind, aber es wirkt überzeugend, da die SCHERBEN das glaubten und lebten, was sie bzw. Rio Reiser da sangen. Die Konzerte jener Zeit deckten gerade mal die Unkosten, und man spielte für alle möglichen Solidaritätsveranstaltungen. Danach wurden irgendwelche Häuser besetzt, und bei alledem dröhnte man sich die Birne zu. Angeblich wurde der Song „Keine Macht für Niemand“ von der RAF als „Hymne für den bewaffneten Kampf“ in Auftrag gegeben, dann aber als „Blödsinn, irrelevant und für den antiimperalistischen Kampf unbrauchbar“ abgelehnt. Mit dem frühen Punk hatten TON STEINE SCHERBEN die Gesellschaftskritik gemein. Was bei TSS aber noch Utopien zur Folge hatte, mündete beim Punk in Nihilismus und Destruktivität.

Nach der Veröffentlichung des dritten Albums „Wenn die Nacht am tiefsten“ Mitte 1975 verlassen die SCHERBEN mit ihrer Kommune Berlin und beziehen einen alten Bauernhof in Fresenhagen in Nordfriesland, wo es zu Spannungen innerhalb der Band kommt. Bei kalter Heizung im Winter hören love & peace auf. Erst 1981 melden sich die SCHERBEN wieder mit „IV“, einem Doppel-Album. 1983 kommt das letzte Studio-Album „Scherben“. Der erste Teil eines Konzertmitschnitt von 1984 erscheint 1985 unter dem Titel „In Berlin 1984“, der zweite 1996 unter dem Titel „live II“. Sämtliche Alben von TON STEINE SCHERBEN gibt’s auf CD und größtenteils auch noch neu als LP (Vertrieb ist Indigo).
Im Mai 1985 standen die SCHERBEN vor einem Schuldenberg von 300.000 Mark, der Preis für 15 Jahre als Band ohne Major-Label („Keine Macht für Niemand“ wurde lange Zeit größtenteils selbst vertrieben). Vor die Alternative gestellt, zur Musikindustrie zu wechseln, oder aufzuhören, beschließt die Band, sich aufzulösen.
In den nächsten 10 Jahren sollte Rio Reiser, der fast alle Texte bei TON STEINE SCHERBEN schrieb, mit seinen Solo-Alben den wirklich großen Erfolg haben.

Es gibt einen Tatort von ’94, „Im Herzen Eiszeit“, einer aus München, mit diesen beiden Kommisaren halt, in dem Rio Reiser eine Hauptrolle spielt, die irgendwie bezeichnend ist. Er spielt dabei einen gealterten Anarcho, der nach langen Jahren, die er wegen eines Bankraubs im Gefängnis gesessen hatte (als er durch das Tor geht, hat er wieder seine alte Lederjacke mit dem eingekreisten A an), an der veränderten Welt draußen scheitert. Seine damaligen militanten Kumpels bei dem Bankraub kamen alle davon, weil er der einzige war, der zu dem angeschossenen Wachmann zurücklief. Zurück in der Freiheit muß er feststellen, daß seine Kameraden zu Arschlöchern mutiert sind und Autohäuser betreiben oder übelkeitserregende Talkshows moderieren. Natürlich muß dafür einer nach dem anderen das Zeitliche segnen, ist ja klar. Wer der Mörder ist, verrat ich nicht, weil ich es nicht mehr weiß. Ein trauriger Tatort, unbedingt anschauen.
Am 20. August 1996 starb Rio Reiser im Alter von 46 Jahren in seinem Bauernhaus in Fresenhagen an inneren Blutungen.
Gar nicht mal zu rührselig ist „Abschied von Rio“, ein Konzertmitschnitt vom 1. September ’96 im Berliner Tempodrom, wo mehr oder weniger bekannte „Deutschrocker“ und die Mitglieder der SCHERBEN Songs von Rio und den SCHERBEN spielen, oder besser, manchmal wirklich gelungen interpretieren (z. B. die „Linkssentimentalen Transportarbeiterfreunde“ „Keine Macht für Niemand“).

Zum ersten Mal habe ich „Keine Macht für Niemand“ vor über drei Jahren auf einer 70er-Jahre-Originalpressung (Doppel-LP in Wellpappkartonverpackung, war aber keine Erstpressung mehr - der lagen kleine Plastiksteinschleudern bei) gehört. Er später legte ich mir die „digitally remasterte“ CD zu. Die Tape-Kopie, die ich mir von der Platte gemacht hatte, besitzt mehr Leben, aber wahrscheinlich bilde ich mir das ein.
Ein Grund, warum mir dieses Album so gefällt, mag sein, daß es in unserer Zeit so hemmungslos überholt scheint, musikalisch, soundtechnisch (8-Spur-Aufnahme), textlich, ideologisch.
Nur alle paar Monate lege ich diese Platte auf. Denn ab und zu sind plakative Parolen notwendig in einer Welt des, äh, Wertepluralismus. Und für ein paar Augenblicke kann man sogar dran glauben. Zu oft genossen, werden die Texte aber platt und abgedroschen. Darum sollte man diese Platte nicht totspielen, dafür ist sie zu gut.

Buchmäßigt sieht’s folgendermaßen aus: 
Es gibt die von Rio Reiser mitverfaßte Autobiographie „König von Deutschland“, die 1994 bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht wurde und die sich hauptsächlich mit der Zeit vor und mit den SCHERBEN befaßt.
Kai Sichtermann, Bassist bei den SCHERBEN, Jens Johler und Christian Stahl betitelten ihr Werk „Keine Macht für Niemand. Die Geschichte der Ton Steine Scherben“. Hier ist ALLES drin, auf 315 Seiten. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2000.
Von 1985 stammt „Ton Steine Scherben. Geschichten, Noten, Texte und Fotos aus 15 Jahren“. Genau das findet man hier auch, alle Texte, alle Noten. Das Buch wurde 1998 wiederveröffentlicht und zwar auf dem TSS-Label  „David Volksmund“. Wenn’s nicht im Buchhandel erhältlich ist, vielleicht über Indigo im Plattenladen.
Egon Bunne, der mit den SCHERBEN in Fresenhagen wohnte, hat den Alltag der Landkommune auf Super 8-Film festgehalten. Daraus ist, ’98 glaube ich, die Dokumentation  „Scherben in Friesland (1974-1978)“ entstanden, die zum fünften Todestag von Rio Reiser am 18. August 2001 spät in der Nacht auf Nord 3 lief. Gleich danach kam ein Scherben-Konzert von 1982 aus dem ROCKPALAST.
Im Winter 2001 kam „Der Traum ist aus - oder: Die Erben der Scherben“ in die Kinos. Zwar kommen ehemaliger Mitglieder der Scherben zu Wort, aber der Film ist keine Dokumentation im engen Sinne, dazu ist er chronologisch viel zu lückenhaft und durcheinander, sondern mehr ein Stimmungsbild der 70er und 80er Jahre. Stimmungsbild auch in dem Sinn, daß man manche Einstellungen auch „als Poster aufhängen“ könnte, wie Tina meinte. 
Gut die Hälfte des Films erklären Musiker von z. B. den STERNEN, ELEMENT OF CRIME, TOCOTRONIC oder DRITTE WAHL welchen Einfluß die Scherben auf ihr persönliches Leben und ihre Musik hatten und haben. Musik dürfen die natürlich auch in dem Film machen.
Mit den genannten Bands konnte ich bisher wenig verbinden, erträgliche deutschsprachige Rockmusik bestand für mich im Wesentlichen aus eben TON STEINE SCHERBEN, EA80 und vielleicht noch den ÄRZTEN, aber diese Bildungslücke konnte idealerweise am nächsten Tag mit zwei CDs von ELEMENT OF CRIME und den STERNEN, die ich von  Heike bekam, geschlossen werden.

- Martin - 01/2001 bis 12/05