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„Es fehlt nicht an Autoren, deren Verzweiflung an unserer Zeit und deren Angst vor dem Chaos echt ist. Es fehlt aber an solchen, deren Glaube und Liebe ausreicht, sich selber über dem Chaos zu halten.“  Hermann Hesse

Dies ist die Neufassung eines Artikels, der in der letzten Ausgabe des NONKONFORM-Fanzines im Mai 1999 erschienen ist. Da dessen Auflage nur sehr klein war, aber die Reaktionen recht positiv, habe ich mich entschlossen, ihn für's Internet etwas zu überarbeiten und zu ergänzen.

„At a later date...“

JOY DIVISION entdeckte ich Ende ’95, und die Begeisterung, soweit man in diesem Kontext von „Begeisterung“ sprechen kann, hat seitdem nicht abgenommen. Sie sind eine jener Bands, über die man immer mal wieder was gehört oder gelesen hatte und denen irgendwie das vielstrapazierte Attribut „Kult-Band“ anhing. In Interviews und Artikeln mit Wave- und Gothic-Bands wurde der Name fast ehrfürchtig erwähnt, denn JOY DIVISION werden zu den Gründervätern dessen, was als Gothic-Rock bezeichnet wird, gezählt. JOY DIVISION sind ein Phänomen, das sich schwer im Rahmen weniger Seiten beschreiben läßt, ein Versuch, der zwangsläufig bruchstückhaft bleiben muß. Die Entscheidung, was JOY DIVISION wirklich sind bzw. waren, bleibt jedem nach Anhören der Alben selbst überlassen.

„Here are the young men...“

here are the young menMitte 1976: Bernard (später auch als „Barney“ mit dem wechselnden Nachnamen „Albrecht“ oder „Dicken“ bekannt) Sumner und Peter Hook beschließen, ermuntert durch die SEX PISTOLS, ebenfalls Musik zu machen. Bernard übt sich an der Gitarre, Peter hängt sich den Baß um. Die Band soll STIFF KITTENS heißen, nur ein Sänger fehlt noch. Ende 1976 findet sich dieser in Ian Curtis, der sich als stark beeinflußt von VELVET UNDERGROUND sieht. Einen richtigen Schlagzeuger hat die Band erst einen Tag vor ihrem ersten Auftritt im Mai ‘77, bei dem sie sich vor Beginn des Sets in WARSAW (Warschau) umbenennt. „Etwa beim fünften Song schafften sie es gerade mal, einige zusammenhängende Griffe zu spielen“, heißt es in einer Konzertbesprechung. Nichtsdestotrotz folgen weitere Auftritte und ein (nie veröffentlichtes) Demo, nach dem schließlich der endgültige Schlagzeuger Steve Morris die Band komplettiert. Aufgrund ihrer Kleidung, die ganz im Stil der 30er und 40er Jahre gehalten ist, sowie wegen Bernards (andere Quellen benennen Ian) Ansage „You all forgot Rudolf Heß“ am Anfang des Live-Stücks „At A Later Date“, mit dem die Band auf einer erst Mitte ‘78 veröffentlichten Compilation vertreten ist, werden WARSAW/JOY DIVISION latent Nazi-Tendenzen nachgesagt, die jedoch durch die Texte nicht zu belegen sind (eher das Gegenteil - in „They Walked In Line“; „At A Later Date“ selbst liefert zudem auch keine Anhaltspunkte). Wohl um die Aura des Geheimnisvollen zu nähren, nimmt die Band weder zu diesen Vorwürfen, noch zu anderen Textinhalten jemals Stellung, genauso handhabt sie Fragen nach dem Privatleben der Musiker. Silvester ‘77 tritt die Band zum letzten Mal als WARSAW auf, da eine Namensähnlichkeit die Umbenennung in JOY DIVISION erfordert. Der Begriff „Joy Division“ bezieht sich auf den Roman „The House Of Dolls“ von Karol Cetinsky (auch andere Schreibweisen tauchen in der Literatur auf), welcher auch im Song „No Love Lost“ zitiert wird, wo er für zur Prostitution gezwungene KZ-Gefangene steht. Geschmacklos? Sicherlich - aber mehr? Unwissenheit, respektive Blödheit, wie im Falle der Amis SLAYER, darf man bei JOY DIVISION nicht annehmen, also werden sie sich irgendwas dabei gedacht haben, aber was? 1978 folgen weitere Auftritte (ausschließlich in England) und eine EP mit dem Titel „An Ideal For Living“, welche in der Erstauflage als 7“-Single die Zeichnung eines trommelnden Hitlerjungen ziert, jedoch auch das berühmte Foto eines jüdischen Kindes, das nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 von einem deutschen Soldaten mit einer Maschinenpistole bedroht wird. Bewußte Provokation mit Nazi-Symbolen, wie sie im Punk nicht ungewöhnlich war? „This is not a concept EP. It is an enigma“, ist auf dem Cover vermerkt. Die wenige Monate später folgende, soundtechnisch überarbeitete Neuauflage als 12“-Maxi zeigt die verwinkelte Architektur eines Baugerüstes. Was wollen uns die Künstler damit sagen? Vielleicht nur: Schaut her, vorher war hier ein Hitlerjunge, jetzt steht hier ein Baugerüst - und jetzt fangt mal an, in diesen Scheiß etwas hinein zu interpretieren...
Das langerwartete erste Album „Unknown Pleasures“ steht im Juni ‘79 endlich in den Läden. Die folgenden Live-Auftritte polarisieren die Kritiker, ein Hinweis auf das verstörende Element in der Musik JOY DIVISIONs. Von Dezember ‘79 bis Januar ‘80 findet die erste Tour auf dem europäischen Festland statt; von den elf Auftritten sind JOY DIVISION zweimal in Deutschland, in Köln und Berlin, zu sehen und zu hören. Zwischen dem 18. und 30. März gehen Curtis, Sumner, Hook und Morris erneut ins Studio um ihr zweites Album aufzunehmen. Nur drei der Bandmitglieder sollten die Veröffentlichung noch miterleben. Der Sprung nach USA ist für Ende Mai geplant, der letzte Auftritt JOY DIVISONs findet am 2. Mai ‘80 in der Universität Birmingham statt. In der Nacht zum 18. Mai ‘80, kurz bevor die Band nach Amerika abfliegen soll, verübt Ian Curtis Selbstmord. Die Single „Love Will Tear Us Apart“ und das Album „Closer“ erscheinen im Juni und Juli posthum. Anschließend beenden die verbliebenen Mitglieder die Geschichte von JOY DIVISION, benennen sich in NEW ORDER um, und spielen Songs von JOY DIVISION nur mehr sporadisch.

Ian Curtis

Ian CurtisJOY DIVISION waren Ian Curtis, soviel steht fest. NEW ORDER sind eine andere Band, wenn auch anfangs musikalisch ähnlich und personell fast identisch. Ian Curtis ist 23, als er stirbt. Schaut man auf seine Texte und die Art und Weise wie er sie artikuliert, ohne diese Tatsache zu kennen, könnte man meinen, hier einen wesentlich älteren, kummerbeladenen, sehr depressiven Menschen vor sich zu haben - „But I remember when we were young“, heißt es in „Insight“ (‘79). Auch die Stimme klingt sehr voll, sehr erwachsen, so ganz anders als das, was Adoleszenten heute in den Hitparaden von sich geben. Fotos zeigen einen schmächtigen jungen Mann, eine auf den ersten Blick eher unauffällige Erscheinung. Lou Reed von VELVET UNDERGROUND ist sein Vorbild, denn „... als ich dann zwei von den Velvet-Platten hörte, entdeckte ich da etwas, was so wirklich war“. Ähnlich wirklich wie FEAR OF GOD etwa, oder ANACRUSIS, bei denen rüberkommt, daß da nicht nur irgendwer Musik macht, sondern, selbst bei den Studioproduktionen, präsent ist. Sein ganzes Leben scheint Ian unter Depressionen gelitten zu haben, was noch durch epileptische Anfälle erschwert wurde, die sogar des öfteren auf der Bühne ausbrachen und vom Publikum mit einer besonders bizarren Performance verwechselt wurden. Auch die Heirat mit Deborah ‘77 und die Geburt seiner Tochter Natalie kurz vor Erscheinen von „Unknown Pleasures“ tragen wenig zu seiner Stabilisierung bei, zumindest lassen die Texte, die zu dieser Zeit entstanden, darauf schließen. Zweimal zuvor war es beim Versuch geblieben, beim dritten Mal gelingt Ian Curtis der Suizid.

Unknown Pleasures

unknown-coverSchwarzes Cover. Kein Bandname, kein Titel aufgedruckt. In der Mitte in Form eines Quadrates seltsame Wellenlinien (die graphische Darstellung des Radiosignals einer Supernova, der Explosion eines Sterns). Die Musik: Ein Auto fährt durch die Nacht einer englischen Industriestadt, vielleicht Manchester. Eine dunkle Stimme ertönt: „Confusion in her eyes that says it all. She’s lost control“. Es nieselt, die Fahrbahn ist naß, die Regenpfützen schimmern ölig im Scheinwerferlicht. Realitäts- und Identitätsverlust in der Isolation. Fabrikschornsteine rauchen; von irgendwoher kommt ein fahles Licht. Der Baß wird von JOY DIVISION als eigenständiges Instrument benutzt, übertönt oft sogar die Gitarre, bildet eine Einheit mit dem Schlagzeug und läßt die schrammelnde Gitarre nur für begrenzte Zeit mit ein paar Akkorden aus dem Hintergrund treten. Von den Gassen der Reihenhäuser mit den roten Backsteinmauern hallt das Klirren von Glas, das Umfallen nicht identifizierbarer Gegenstände und das Klappern von Schritten. Bei genauem Hinhören dringen diese Geräusche durch die Musik und schaffen eine beunruhigende Stimmung. Ian Curtis besingt nicht die „Romantik“ dieser städtebaulichen Ödnis, legt kein Pathos in diese Beschreibung menschlicher Entfremdung, sondern drückt aus, was ist, ohne etwas vorspielen zu müssen, so hat es den Anschein. Ab und zu fährt der Wagen etwas schneller, holpert durch Schlaglöcher, das Wasser aus den Pfützen spritzt auf den Gehsteig, der Motor wird etwas lauter, doch nur, um bald wieder vom Nebel gedämpft zu werden. „Get weak all the time, may just pass the time; me in my own word, yeah you there beside; the gaps are enormous, we stare from each side; we were strangers for way to long“.

Closer

Closer-CoverIan Curtis ist gut zwei Monate tot, als „Closer“ erscheint. Das Cover zeigt die neutestamentliche Szene der Frauen, die den Leichnam des toten Christus in der Grabeshöhle beweinen, aufgenommen übrigens auf dem Staglieno Friedhof in Genua, dessen romantisch-morbide Grabskulpturen auch das Cover der Maxi von „Love Will Tear Us Apart“ zieren. Nach Angaben von Factory, JOY DIVISIONs Label, stand dieses Design jedoch schon vor dem 18. Mai fest.
Während „Unknown Pleasures“ an eine Fahrt durch nächtliche Straßen erinnert, läßt sich„Closer“ mit einem Gang durch die verschiedenen Räume eines Hauses assoziieren. Baß und Schlagzeug sind immer noch charakteristisch auf „Closer“, doch die Gitarre setzt nun mehr prägende Akzente in verschiedenen Songs (z. B. in „A Means To An End“). Der Gang durch das Haus gestaltet sich gemächlich. Manche Räume sind mit dicken Vorhängen vor den Fenstern ausgestattet, die jeden ungebührlichen Lärm schlucken, andere sind leer, reflektieren und verzerren jedes Geräusch, im nächsten sind die Fenster aufgerissen, draußen tobt ein Sturm, und man sieht das es Nacht ist. So im Falle von „Twenty Four Hours“, bei dem eine sich abwechselnd dramatisch steigernde und wieder abflauende Rhythmussektion Ian Curtis’ Klagegesang vorantreibt. Die melancholische Wanderung führt in die oberen Stockwerke, wo ein Klavier steht, das eine Art Trauermarsch begleitet - jetzt wird es langsam unwirklich - und endet auf der Dachterrasse mit fast sphärischen Klängen zu der - das Album abschließenden - rätselhaften Frage „Here are the young men... well where have they been?“.
Die Single „Love Will Tear Us Apart“ (erhältlich auf „Substance“), im gleichen Zeitraum wie die Songs auf „Closer“ entstanden und ebenfalls nach Ian Curtis’ Tod veröffentlicht, dürfte der bekannteste Song von JOY DIVISION sein. Auf den ersten Blick ein Lovesong, auch relativ „tanzbar“ vorgetragen, jedoch in Wahrheit die genaue Umkehrung eines „Liebesliedes“. Denn Liebe ist nicht möglich, erstarrt in Routine und führt wieder zu Einsamkeit und Verzweiflung, so zumindest in der schizoiden Welt des Ian Curtis. Liest man die Ausführungen in Deborah Curtis’ Biographie, erscheint dieser Song als eindringliche Metapher für die Ehekrise, die dem tragischen Finale vorausging.

„This is the hour when the mysteries emerge...“

transmissionEs dürfte in Deutschland nur wenige Menschen geben, die JOY DIVISION im Januar ‘80 live erlebt haben. Lassen wir die Bootlegs außer Acht, so bleiben Konzertberichte und der Live-Mitschnitt des letzten Konzerts vom 2. Mai auf „Still“. Es gibt noch ein offizielles Video („Here Are The Young Men“), das aber leider vergriffen ist. In Horst Puschmanns Buch finden sich einige Zitate: „JOY DIVISIONs Musik ist wahrhaftig gewalttätig - und es handelt sich dabei um eine Gewalttätigkeit, die verwurzelt ist im tierischen Verlangen, der Kraft des Verfalls, der Hemmung des Versagens und des Fatalismus.“ - „Die neuen Songs wirken farbloser, und JOY DIVISION bewegen sich immer mehr in die Richtung derjenigen Verzweiflung, die ihre Musik schon immer in sich trug.“ - „Ich fühle mich gelangweilt, bin ratlos, fasziniert und entzückt. Ich bin aber zu keinem Zeitpunkt unterhalten. Dafür denke ich unheimlich viel nach. Ist dies Kunst oder großkotziger Unsinn? Oder ein wenig beidem?“ - „Der Bassist kehrt dem Publikum die ganze Zeit den Rücken zu und schwankt im düsteren Rhythmus von einer Seite der Bühne zur anderen. Der Gitarrist steht wie festgewachsen im Hintergrund und neben ihm hämmern zwei Sticks auf die zitternden Trommeln ein. Vorne auf der Bühne steht der Sänger, wirbelt seine rechte Hand in der Luft herum und schreit zündende Texte ins Publikum.“
Einen akustischen Eindruck davon vermitteln die Live-Tracks auf „Still“. Nicht technische Perfektion steht im Vordergrund. Die Gitarre wirkt teilweise sehr punkig, dissonant. Drei Songs aus dem, damals noch nicht erschienenem, Album „Closer“ sind bereits zu hören. „This is a crisis I knew had to come, destroying the balance I’d kept“ („Passover“) - selbst, wenn man die CD schon ein paar Dutzend Male gehört hat, läuft’s einen immer noch kalt den Rücken runter. Dazu läßt die Musik keine, aber auch gar keine Hoffnung aufkommen. Was auf „Closer“ zurückgehalten wird, kommt hier ohne Filter („I PUT MY TRUST IN YOU!“ - „A Means To An End“). Und einen derart schrägen Synthesizer, wie auf „Decades“ könnte man auf keiner Studioproduktion bringen. Am Schluß dieses Songs taumelt Ian Curtis von der Bühne, schafft es aber noch, die Zugabe „Digital“ zu singen. „A New Dawn Fades“, hier kommt der Weltuntergang, es hat keinen Sinn, noch Pläne für morgen zu machen; no one gets out here alive - oder war das jemand anderes?
1999 kam über NMC-Music ein Live-Mitschnitt des Konzerts im „Warehouse“ in Preston vom 28.Februar 1980 heraus, der semioffiziellen Charakter hat, weil wohl in Absprache mit der Rest-Band veröffentlicht. Der Sound ist, nun ja, mittelmäßig, aber rauh und laut, also relativ OK. Die Ansagen zwischen den Songs sind - laut akribisch geführten Fan-Aufzeichnungen - für den sonst eher kurz angebundenen Ian Curtis vergleichsweise ausführlich. Der Grund dafür liegt in den Zwangspausen, die durch hörbare Störungen in der Verstärkeranlage verursacht wurden, und die ja irgendwie überbrückt werden mußten. Besonders beeindruckend wirkt das Ende des letzten Songs „She’s Lost Control“, wenn Gesang und Gitarrenlärm ineinander übergehen.
2001 brachten NMC einen weiteren Live-Mitschnitt raus: „Les Bains Douches 18 December 1979“. Neben dem Konzert in Paris gibt es ein paar Songs aus Amsterdam vom 11.01.80 und aus Eindhoven vom 18.01.80. 

„Door slowly opens, Johnny sits on his bed, lays down and dies“ („Johnny 23“, 1979; unveröffentlicht)

door slowly opensIn der Nacht vom 17. auf den 18. Mai ‘80 ist Ian Curtis alleine in seinem Haus in Macclesfield. Kurz zuvor hatte es Streitigkeiten mit seiner Frau Deborah wegen einer anderen Frau, der Journalistin Annik Honoré, gegeben. Er sieht sich im Fernsehen den Film „Stroszek“ von Werner Herzog an (zwei Zitate vom Ende des Films, „The chicken won’t stop“ und „The chicken stops here“, tauchen später zwischen den Auslaufrillen von „Still“ auf), so ist es zumindest in der Sekundärliteratur nachzulesen, wobei die Frage zu stellen ist, woher man das eigentlich weiß. Danach schreibt er einen langen Abschiedsbrief und begeht anschließend Selbstmord, indem er sich in der Küche erhängt, wo seine Frau ihn am nächsten Morgen findet.
Die Gründe für diese Tat werden wohl immer im Dunkeln bleiben. War Ian Curtis wirklich so schwer depressiv erkrankt, daß er keinen anderen Weg mehr sah, taten die epileptischen Anfälle ein übriges? Steigerte er sich durch seine düsteren Texte mehr und mehr in Selbstmordphantasien hinein? Oder hat er seinen Wunsch nach Wirklichkeit, der Einheit von Künstler und Werk, so auf drastische Art einer Vollendung zugeführt? Es drängt sich der Vergleich zu Lovecraft auf, dessen Stories ja auch unmittelbar mit seinem extrem seltsamen Lebenswandel verknüpft sind.
Muß man in Ian Curtis einfach nur einen Typen sehen, der mit der Welt nicht mehr zurechtkam - was ihm keine Sonderstellung gibt, mit der Ausnahme, daß die anderen ihre Gedanken keinem größeren Publikum mitteilen können („When the people listen to you, don’t you know it means a lot...“ - „Novelty“)? Möglicherweise war er ein sehr guter Schauspieler mit Hang zur Melancholie; ein Mensch, den ein, überspitzt gesagt, banaler Liebeskummer in eine Krise stürzte, aus der er nicht mehr herauskam - auch nicht sonderlich außergewöhnlich. Oder war er ein genialer Musiker, der die Gabe hatte, seine innersten Gefühle auf radikale Weise auszudrücken, ja, gezwungen war, diese in Worte zu fassen?
Eine Band wie JOY DIVISION, ein Mensch wie Ian Curtis, fordert Mythenbildung geradezu heraus; ein Artikel wie dieser trägt dazu natürlich auch bei. Was ist Mythos, und was war Wirklichkeit, nach 20 Jahren ist das nicht mehr festzustellen - und seien wir ehrlich: wollen wir das überhaupt? Studiert man die Partitur seines Lieblingssongs, sofern es sie gäbe, um hinter das Wie eines Stücks zu kommen? Wollen wir wirklich wissen, wie Ian Curtis „als Mensch“, also „wirklich“, war? Aussagen seiner Bandkollegen zufolge nämlich relativ normal und durchaus - man höre und staune - zu Späßen aufgelegt und keinesfalls die Verkörperung permanenter Melancholie.
Egal, was „wirklich“ war. In dem Augenblick, in dem Curtis auf der Bühne stand, in dem Augenblick in dem wir die Play-Taste drücken, ist alles real, das ist das Wesen der Kunst, und nichts anderes zählt. Die ganze dunkle Seite der menschlichen Existenz kommt an die Oberfläche, in einer Eindringlichkeit, wie man selten vorher gehört hat.

„Here, here, everything is kept inside. So take a chance and step outside...“

Warum hört man sich solche Musik an? Denn, wie gesagt, „unterhaltsam“ im herkömmlichen Sinne sind JOY DIVISION nicht. Zwar gibt es durchaus „echt fetzige“ (Bernard Sumner) Songs, man denke an „Novelty“ oder „Transmission“, und Peter Hook ist der Ansicht, „daß JOY DIVISIONs Musik sehr aufbauend war“. Trotzdem hängt über all dem eine ziemlich desolate Stimmung, die nach Ian Curtis’ Selbstmord noch stärker selektiv wahrgenommen wurde. Vielleicht ist es ein elementares Bedürfnis von Menschen, dunkle und negative Gefühle ausdrücken zu können, was jedoch, wie das Ausdrücken von Emotionen allgemein, in unserer Gesellschaft tabuisiert wird. Es gilt nicht als sonderlich jung und dynamisch, „Glaube, Liebe, Hoffnung“ (im Moment jedenfalls) für naive Gedankenkonstrukte menschlicher Hilflosigkeit zu halten und die vier Kant’schen Fragen - „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich wissen? Was ist der Mensch?“ - mit einem trockenen „Nichts“ zu beantworten.  JOY DIVISION benutzten Pop-Musik als Werkzeug, um in das kollektive Unterbewußtsein einzudringen, heißt es im Vorwort zu „Touching from a Distance“. Natürlich besteht die Gefahr des Sich-Reinziehen-Lassens, wobei da bestimmt noch mehrere Faktoren hinzukommen müssen, bevor man mit dem Strick in die Küche geht, andererseits gibt es die Möglichkeit einer kathartischen, befreienden Wirkung. Insofern sind JOY DIVISION vielleicht wirklich auch eine „aufbauende“ Band. 

A New Order

Schon  vor Ian Curtis‘ Tod hatte die Band vereinbart, daß der Bandname geändert werden sollte, würde ein Mitglied, aus welchen Gründen auch immer, gehen. Zudem muß Sumner, Hook und Morris die Einzigartigkeit JOY DIVISION’s bewußt gewesen sein, weshalb der neue Bandname auch die Hinwendung zu etwas Neuen beinhalten mußte: New Order. Der neue Orden, der neue Befehl, die neue Ordnung - was auch immer. In England ist dieser Begriff durch Hitlers Vision eines „rassisch reinen“ Europas vorbelastet, weshalb erneut Vorwürfe eines faschistoiden Hintergrundes laut werden. Die Band stellt dazu fest, daß sie politisch nicht interessiert sei und der Name keine besondere Bedeutung hätte.
So werden also neue Demos aufgenommen und ein erster (unangekündigter) Auftritt Ende Juli ’80 absolviert, vier weitere Auftritte in den USA folgen, und wenig später kommt mit Gillian Gilbert, Steve Morris’ Freundin, eine eigene Keyboarderin in die Band.
Erstes veröffentlichtes Produkt ist die Single/Maxi mit den Songs „Ceremony“ und „In A Lonely Place“ im Januar ’81, deren Texte noch Ian Curtis verfaßt hat. Bernard Sumner hat bei NEW ORDER zusätzlich den Gesang, genauer: Sprechgesang, übernommen, der dem von Ian Curtis etwas ähnelt, aber bei weitem nicht dessen Tiefe und Intensität erreicht. „Ceremony“ wurde von JOY DIVISION nur einmal live gespielt (und zwar beim, auf „Still“ verewigten, letzten Konzert) und kommt recht flott rüber, im Gegensatz zum getragenen „In A Lonely Place“. Beide Songs unterscheiden sich logischerweise nicht sehr vom bekannten JOY-DIVISION-Material. NEW ORDER setzen die Politik JOY DIVISIONs fort, Singles bzw. Maxis als eigenständige Kunstwerke zu betrachten, nicht bloße Auskopplungen aus Longplayern, weshalb die Songs auch nicht auf den Alben zu finden sind (später wird es ein paar wenige Ausnahmen davon geben).
Im September ’81 erscheint die zweite Single „Everything’s Gone Green/Procession“. Beim ersten Song fühlt man sich beim durchgängigen Rhythmus mit markantem Baß an Stroboskoplichter in der Disco erinnert; auf der B-Seite plätschert es relaxed dahin, mit gesanglichen Anklängen an Ian Curtis.

Movement

Man durfte also gespannt sein, wie das erste komplette Album von NEW ORDER klingen würde. „Movement“ kommt im November ’81 auf den Markt und wird von den Kritikern teilweise mit wenig Euphorie aufgenommen, da das Album zu wenig Neues beinhaltete, bestenfalls Experimente mit neuen Stilmitteln. Das ist die eine Seite. Für den JOY DIVISION-Enthusiasten mag „Movement“ eine interessante Abwandlung bzw. Weiterentwicklung sein.
Gesang steht auf diesem Album nicht so sehr im Vordergrund, sondern Rhythmus - „I’ve always wanted to be a drum machine“, soll Steve Morris mal gesagt haben. Beeinflußt von Bands wie KRAFTWERK, setzen NEW ORDER verstärkt Synthesizer und Sequenzer ein, was dem Sound eine zusätzliche Dimension verleiht, die bei JOY DIVISION erst ansatzweise vorhanden war.
Das ganze Album hindurch versuchte man sich vorzustellen, was Ian Curtis aus diesen Songs gemacht hätte. Und natürlich ist man versucht, in den Texten Anspielungen auf dessen Selbstmord zu finden. Diese sind sehr kryptisch, d. h. viel- und nichtssagend zugleich, stehen also für jede Interpretation offen („I’m so tired, I’m so tired“ - „The Him“, „I tried to understand him, I tried so hard“ - „Denial“; wie schon bei vielen JOY-DIVISION-Texten kommen die Titel im Song nicht vor und scheinen auch keinen Bezug zu ihm zu haben).
Besonders in den letzten 14 Minuten dieses etwas mehr als halbstündigen Albums, bei „The Him“, „Doubts Even Here“ und „Denial“, erzeugen NEW ORDER mit Keyboard, Baß und Drums fast tranceartige Sounds; weniger im Sinne einer einlullenden Trance, sondern ähnlich der eines Läufers in der Nacht; nicht ruhig, nicht hektisch, ein stetiges Fortschreiten. Auch auf „Closer“ hätten diese Songs nicht deplaziert gewirkt.
Erstaunlich wirkt bei „Movement“, daß das Album, trotz der vorhandenen Düsternis und der leichten Unterkühltheit und Monotonie, seltsam spontan und unkonstruiert wirkt, als wüßte jeder Musiker genau, was er zu spielen hat, ohne viel nachzudenken - vielleicht ist es das, was Bernard mit „echt fetzig“ gemeint hat.

Auf der Maxi nach „Movement“, „Temptation/Hurt“ (April ’82) werden Veränderungen deutlich. „Temptation“ gemahnt an die PET SHOP BOYS, die es damals noch gar nicht gab, und „Hurt“ klingt angeblich (im Buch von Brian Edge) nach DURAN DURAN. Der hämmernde Synthesizer und der brummelnde Baß haben jedoch etwas.

Fast zeitgleich mit dem zweiten Album „Power, Corruption And Lies“ erscheint im März ’83 die legendäre „Blue Monday“-Maxi, die meistverkaufte Maxi überhaupt. Auf der B-Seite geben NEW ORDER eine instrumentale Interpretation des Titeltracks zum Besten. Was soll man nun zur zweiten LP sagen? Die Ablösung von JOY DIVISION ist vollzogen, NEW ORDER spielen Wave-Pop, wenn es diesen Begriff denn gibt. Die Songs sind zwar eingängig, aber sicher nicht unbedingt massenkompatibel, dies verhindert ein schwer definierbares leicht sperriges Element und eine oft unterschwellig vorhandene Melancholie. Peter Hook besteht natürlich auch weiterhin darauf, den Baß als eigenständiges Melodieinstrument zu benutzen. Ironische Distanz drückt das Cover aus, das völlig ohne Zusammenhang zum Titel steht - es zeigt nämlich ein impressionistisches Rosen-Stilleben.
Mir sind die nachfolgenden Alben der Band nicht so gut bekannt, als daß ich darüber kompetent berichten könnte. Soviel ist jedoch sicher: Ab 1983 hatten NEW ORDER ihren neuen Weg gefunden. Wie charakteristisch jedoch Peter Hooks Baß ist, konnte ich im Sommer ’97 feststellen, als Bayern 3 mit schöner Regelmäßigkeit zum Abendessen einen Song mit dem Titel „What Do You Want From Me“ abdudelte. Schon nach wenigen Sekunden war ich mir sicher, hier irgendwas aus dem NEW ORDER-Umfeld zu hören, und tatsächlich stellte sich heraus, daß unter dem Namen MONACO ein Projekt von Peter Hook firmierte.

Dieser Artikel war dem Schaffen JOY DIVISONs und dem Nachwirken bei NEW ORDER gewidmet, darum soll an dieser Stelle Schluß sein. Der geneigte Leser möge sich selbst ein (Hör-)Bild machen.

Als Abschluß möchte ich das Vorwort von Alfredo Suatoni zu „From The Centre Of The City“ (siehe weiter unten) zitieren:
I came across Joy Division in february 1983 (maybe before), one of many musical genre which were part of this period of rapid change. 
It was two years later, however, that I really discovered them. 
One night, I was (in an all wood room) in a refuge in the mountains, when in amongst a whole pile of records I recognized the mysterious black cover with the white lines.
Slowly it came back to me.
That night I listened to the record over and over again while outside big, black storm clouds blew over the dark mountains. The room - a bed, carpet and fireplace - seemed totally set apart from the outside world, suspended in a time warp.
The memories are disturbing that obscure record, that alien object opened doors into unknown depths an unknown drawing, sentences etched in metal, galaxies in space.
Dance to the radio.. A lot time had passed.
The following grey, wet morning I left. In daylight nothing was left except for the memory of a sleepless night on the edge of the world, me and Joy Divsion.

Ian Curtis  +18.05.80


HÖREN

JOY DIVISION

Außerdem gibt es eine CD mit den „John Peel-Sessions“. Die ‘95 erschienene Best-Of „Permanent“ kommt mir eher überflüssig vor, da bis auf den 95er-Remix nix Neues drauf ist. Ende ‘97 kam eine 4-CD-Box mit dem Titel „Heart And Soul“ ‘raus, die das gesamte Material abdecken zu scheint und zudem noch abweichende Studioversionen und weitere Live-Tracks enthält. Was ich so gelesen habe, soll zumindest ein Teil der Songs remastered worden sein und ein fettes Booklet beiliegen. Ich würde trotzdem die vier oben genannten CDs empfehlen, die zusammen auch billiger kommen (ca. 20,- DM/CD), als der Hunderter für die Box.
2007 wurden "Unknown Pleasures", "Closer" und "Still" als "Remastered Collector's Edition" jeweils als Doppel-CD mit Live-Aufnahmen neu aufgelegt. Ob die Unterschiede so riesig sind, kann ich nicht sagen; in den Amazon-Rezensionen ist man sich da uneinig. Zumindest scheint man die Alben nicht im Zuge des "loudness war" kaputt-gemastered zu haben.
Die Anzahl der Bootlegs ist unüberschaubar; Bernt Rostads kommentierte Liste umfaßt gut 30 Seiten.

Das am meisten gebootlegte Konzert ist jenes vom 11. Januar 1980 im Paradiso in Amsterdam. Joy Division spielten zwei Sets, weil die Vorband nicht erschienen war. Die Soundqualität des Mitschnitts war schon auf früheren Aufnahmen recht gut, aber erst 2012 stellte ein Joy-Division-Fan der ersten Stunde das bei ihm gelagerte Band, das Grundlage für spätere Radio-Ausstrahlungen war, ins Netz, wo es seitdem als die "The Definitive Edition" sowohl in Bezug auf Klang als auch auf die Intensität des Gehörten bekannt ist. Als ich im Herbst 2019 in Amsterdam war, war natürlich der erste Weg zum "Paradiso", um die legendäre Konzerthalle in einer ehemaligen Kirche im Licht der untergehenden Sonne zumindest einmal von Außen gesehen zu haben.

Kein Muß, aber musikhistorisch natürlich unverzichtbar, ist das offiziell nicht erhältliche WARSAW-Demo, das in Form diverser Bootlegs kursiert (es liegt z. B. dem weiter unten erwähnten Buch von Alfredo Suatoni bei). Einfacher, offensichtlich von den SEX PISTOLS beeinflußter Punk-Rock ist darauf zu hören, derweil die expressiven Ansätze von Ian Curtis‘ Gesang nicht unbemerkt bleiben können. Das Husten am Anfang von „You're No Good For Me“ zeugt von der „Live-Haftigkeit“ dieses Demos.
Vor einigen Jahren sah ich bei einem Mailorder eine CD, die nur "Warsasw" betitelt war, und deren Cover das Foto eines Babygesichts zierte. Für lächerliche acht Euro erhielt man hier das "Warsaw"-Demo plus zwölf alternative Versionen früher Joy-Division-Songs, u. a. "Transmission", "Interzone" und "Shadowplay".


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R. I. P.

 

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