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BERGTATT - Lagnadsoger (2013)

4 ½ Jahre nach dem Debüt "Røtter" ist im Herbst 2013 endlich das zweite Album der norwegischen Band Bergtatt erschienen. Von der ursprünglichen Besetzung ist nur noch John Stenersen dabei, der neben Gitarre auch für die traditionellen Instrumente Drehleier und Schlüsselharfe (Nøkkelharpe) zuständig ist. Der zweite Gitarrist Rolf-Erik Solstad Karlsen ist allerdings schon vor Veröffentlichung des Debüts bei Bergtatt eingestiegen und die "neue" Sängerin Linn Katrin Øygard ist immerhin auch schon seit 2010 in der Band, während Bassist und Schlagzeuger (Letzterer spielt auch bei Funeral) offenbar noch nicht allzu lange dabei sind, was man anhand der Credits erkennen kann, wonach Bass und Schlagzeug bei allen Songs noch von anderen Musikern eingespielt wurden.

Stilistisch gibt es keine großen Änderungen, d.h. wie schon auf dem Debüt bekommt man eine Mischung aus Folk-, Rock- und Metaleinflüssen geboten, wobei die Letztgenannten allerdings nach meinem Eindruck gegenüber dem Debüt etwas zurückgefahren wurden. Einen reinen Doom-Metal-Song wie "Daudens klør", der allerdings auf dem Debüt auch schon etwas aus dem Rahmen fiel, sucht man auf dieser Platte jedenfalls vergeblich. Insgesamt wirkt "Lagnadsoger" - der Titel bedeutet übrigens wörtlich übersetzt "Schicksals(vorher)seher", also eine Art Hellseher - auf mich musikalisch homogener als "Røtter", was auch daran liegen mag, dass der zweite Gitarrist Rolf-Erik Solstad Karlsen bei fünf der insgesamt zwölf Songs als alleiniger Songschreiber und bei weiteren fünf als Mitsongschreiber beteiligt war.

Eröffnet wird die Platte mit "Dømd" ("Verurteilt"), bei dem Linn Katrins Gesang zunächst nur von Akustikgitarren begleitet wird, bevor dann leise der Bass einsetzt und es ein kurzes Zwischenspiel - ich meine, es handelt sich um die Schlüsselharfe - gibt. Erst nach der dritten Strophe setzen die E-Gitarren und während eines nahezu 10 Sekunden lang anhaltenden Schreis auch das Schlagzeug ein. In dem dann bis zum Schluss andauernden Instrumentalteil geht es dann richtig rockig zur Sache.

Ein anderes Stück - übrigens das einzige auf dem Album ohne Schlagzeug -, nämlich die schöne Ballade "To systre" ("Zwei Schestern") , kennt man bereits vom Debüt, wo diese allerdings noch den Titel "Harpa" ("Die Harfe") hatte. Die Komposition selbst stammt von der norwegischen Folk-Band Folque und der Text ist traditionellen Ursprungs. Vom Arrangement her gefällt mir die neue Version noch besser als die vom Debüt. Leider hat man bei der Neueinspielung den Text gekürzt, so dass der Song dieses Mal kürzer ausfällt und die Moral von der Geschichte fehlt. Somit erfährt man nicht, dass die ältere Schwester, welche die jüngere Schwester in einen Fluss gestoßen hatte, so dass diese ertrank und sie deren Geliebten heiraten konnte, am Tag der Hochzeit durch den Klang einer Harfe, die zwei Hirten aus einem Knochen und Locken der toten Schwester gebaut hatten, zu Stein erstarrte. Sehr effektvoll wirken bei "To systre" das Flötenspiel von Gastmusiker Steinar Ofsdal sowie das schöne Geigenspiel und die zweite Stimme beim Refrain von Marie Klåpbakken, die zeitweise mal festes Bandmitglied war, bevor sie sich für eine Solokarriere entschieden hat. Ich finde, dass gerade der Klang der Geige, die noch bei drei anderen Stücken zum Einsatz kommt, sowie von Drehleier und Schlüsselharfe für eine gewisse Ungeschliffenheit der Songs sorgt, die nach meinem Empfinden sehr gut zur Landschaft Norwegens passt und die ich sehr schätze. Insbesondere bei den Balladen eignen sich diese Instrumente sehr gut, um ein Gefühl von Melancholie und/oder Sehnsucht zu vermitteln.

Sehr schön ist auch die zweite Ballade "Gudmund og Signelita", welche das Album abschließt und inhaltlich zur Abwechslung mal einen positiven Ausgang hat. Gudmund hält beim Goldschmied um die Hand von dessen Tochter Signe an, doch der will diese lieber auf dem Meeresgrund sehen, als sie ihm zu überlassen. Da flüchtet Gudmund zusammen mit Signe auf einem Pferd, doch beim Ritt über eine Brücke fällt Signe ins Wasser, wo sie von einem Nøkk gepackt und unter Wasser gezogen wird. Mit dem Spiel auf seiner goldenen Harfe gelingt es Gudmund jedoch, den Nøkk dazu zu bringen, Signe freizulassen. In der letzten Textzeile heißt es dann übersetzt "Selig ist der Jüngling, der mich aus dem Wasser gespielt hat."

Neben den beiden Balladen sind "Huldra" und "St. Hallvard" zwei meiner Lieblingssongs auf dem Album. Bei beiden wird die Spannung musikalisch langsam aufgebaut, bis sie sich jeweils in einem langen, durchdringenden Schrei entlädt. Bei "St. Hallvard" gibt es zwar auch schon bei der instrumentalen Einleitung einen längeren Schrei, der dann allerdings später an Intensität noch übertroffen wird.

"Huldra" vermittelt musikalisch bereits am Anfang eine leicht bedrohliche Grundstimmung, welche in den Strophen durch den lautmalerischen Background-Gesang, der von zwei Mitgliedern von Katzenjammer beigesteuert wurde, unterstrichen wird. Der Text handelt von einer Hulder (einer norwegischen Sagengestalt), die mitbekommen hat, dass jemand einen Teil des Waldes, in dem sie lebt, niederbrennen will, um größere Ackerflächen zu gewinnen. Sie entführt daraufhin dessen Sohn. Als ihr zum Tausch ein Pferd angeboten wird, antwortet sie: "Hör, du lieber Mensch, was ich dir sagen will, deinen Sohn bekommst du nicht von mir zurück, bevor du mit deinem eigenen Blut schwörst, dass du niemals diesen Wald niederbrennen wirst." (Wenn man an die Waldrodungen in einigen Regionen dieser Welt denkt, könnte man geneigt sein zu bedauern, dass die Hulder eine bloße Sagengestalt ist.) Gerade hier zeigt Linn Katrin, dass sie mit ihrer Stimme, die im Vergleich zu derjenigen ihrer Vorgängerin zunächst einmal höher, zarter und weit weniger rockig klingt, durchaus in der Lage ist zu variieren, indem sie etwa in der zuvor zitierten Textpassage den Ärger/Zorn der Hulder hörbar macht, der anschließend in einem langen, gellenden, zugleich aber immer noch kontrollierten Schrei rausgelassen wird.

Bei "St. Hallvard" bekommt Linn Katrin bei einem ähnlichen Schrei noch Unterstützung von den anderen Musikern. Der Text handelt von einer Erzählung über Hallvard Vebjørnsson, einen norwegischen Heiligen (ca. 1020-1043) und zugleich Schutzpatron von Oslo. Dieser versuchte, eine schwangere Sklavin zu retten, die vor drei Männern auf der Flucht war, welche sie des Diebstahls bezichtigten. Als er sich weigerte, die Frau den Männern zu überlassen, und mit ihr in einem Boot davonruderte, wurden beide von den Männern getötet. Diese banden ihn an einen Stein, um ihn zur Verschleierung der Tat im Fjord zu versenken, doch er trieb wieder an die Oberfläche, wo er von Freunden, die ihn gesucht hatten, schließlich entdeckt, aus dem Wasser gezogen und ordentlich begraben wurde. Die toten Zweige an seinem Grab, die bei der Suche nach ihm verwendet worden waren, begannen bald, auf wundersame Weise zu sprießen. Weil er bei der Verteidigung einer unschuldigen Frau getötet worden war, wurde Hallvard vom Volk als Märtyrer verehrt. Eine dramatische Geschichte, wobei der Songtext erst an dem Punkt beginnt, als Hallvard bereits tot im Boot liegt: "Das Boot war voll mit Blut von Hallvards Hals, Sie weiß, dass sie sterben wird, Er versuchte, ihr Leben zu retten, aber verlor in seinem Kampf, Sie folgte ihm bald in den Tod, Hallvard setzte sein Leben aufs Spiel für eine schwangere Sklavin…".

Den meisten Songtexten vorangestellt sind übrigens ein paar einleitende Worte, in denen die darin erzählte Geschichte kurz zusammengefasst wird.

Der bereits zuvor erwähnten Hulder ist auch noch ein weiterer Song mit dem Namen "Bergtatt" gewidmet. Dieses Wort, welches im allgemeinen Sprachgebrauch in der Regel im Sinne von "verzaubert", "hingerissen (von etwas)" verwendet wird, bedeutet wörtlich "vom Berg genommen" bzw., etwas freier formuliert, "in den Berg hinein gelockt". Der Text dieses Songs handelt davon, dass ein Mann, der nachts allein durch einen Wald geht, plötzlich die schönsten Töne vernimmt, die vom Gesang einer Hulder stammen. Wie gebannt folgt er dem Gesang und plötzlich schließt sich der Berg hinter ihm. Im letzten Vers heißt es "Kein Mann kann einer Hulder widerstehen, wenn die (ver-)lockenden Töne heraufsteigen, Das Zuhause der Hulder ward nun dein neues Zuhause, Tief im Berg, dort wirst du deine letzten Jahre leben." Im CD-Booklet ist auf der Seite neben diesem Text ein Foto von Linn Katrin im Wald zu sehen - bloßer Zufall? Der lautmalerische Gesang gleich zu Beginn des Songs (und auch bei einigen anderen Stücken) erinnert mich etwas an Gunnhild Sundli, die Sängerin der inzwischen aufgelösten Band Gåte.

Gut gefallen mir auch das treibende, mit einem coolen Bass- und Schlagzeugintro eröffnete "Hjarterot" und das Stück "Svarte Auge" ("Schwarze Augen"). Bei "Avmakts tid" ("Zeit der Ohnmacht") möchte ich besonders die mal etwas längere schöne Solopassage mit ihrem Wechsel von Gitarre zur Geige und wieder zurück zur Gitarre besonders hervorheben.

Mit dem vorletzten Stück "Halling" enthält das Album auch ein reines Instrumentalstück, bei dem das Tempo zum Schluss immer mehr anzieht.

Der Vollständigkeit halber seien auch noch die Songs "Ravnene" ("Die Raben") und "Kappe Kvit" ("Weißer Mantel") erwähnt.

Sämtliche Texte sind in Nynorsk verfasst.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass mir "Lagnadsoger" insgesamt sehr gut gefällt und der Band auch eine gewisse Originalität nicht abzusprechen ist. Natürlich sind Bergtatt nicht die erste Band, die Folk-, Rock- und Metaleinflüsse miteinander verbinden, doch mir fällt keine Band ein, mit der ich Bergtatt jetzt direkt vergleichen könnte. Gegenüber der aufgelösten Band Gåte, die mir noch am ehesten in den Sinn käme, klingen Bergtatt in jedem Fall rockiger und auch düsterer. Zumindest ersteres gilt auch im Vergleich zur schwedischen Band Garmarna. Ich wünsche der Band, dass sie mit dem neuen Album auch außerhalb Norwegens mehr Aufmerksamkeit erhalten wird, als dies nach Veröffentlichung des Debüts "Røtter" der Fall war.

Wenn man die Songs nicht bloß als Download haben will, kann man die CD außerhalb Norwegens derzeit in jedem Fall bei cdon.eu in Schweden bestellen.

Von der Band selbst hochgeladen wurden bei Youtube die Albumversion von "Huldra" sowie die Demoversion von "Gudmund og Signelita":



- Burkhard - 01/14