Nach
"Løsrivelse"
von Kari Bremnes und "Haugtussa"
von Lynni Treekrem ist mit "Ett liv" ein weiteres faszinierendes
Album mit Vertonungen von Gedichten erschienen, wobei die Musik abermals von
Ketil Bjørnstad stammt, der auf dieser Platte auch wieder am Flügel
zu hören ist. Daneben wirken mit Mads Bergström an der Gitarre,
Arild Andersen am Baß sowie Per Lindvall an den Drums. Über die
Sängerin Lill Lindfors weiß ich so gut wie nichts. Ihre sich meist
in einer mittleren Tonlage bewegende Stimme würde ich als etwas "dunkel"
und "herb" charakterisieren. Diejenigen, die allergisch auf hohe
Frauenstimmen reagieren (soll´s ja geben), dürften insoweit keine Probleme
mit dieser Platte.
Bei den Songtexten handelt es sich um 14 Gedichte der Finnlandschwedin Edith
Södergran (1892-1923), die als eine der Bahnbrecherinnen des lyrischen
Modernismus in Skandinavien gilt. Sie wurde in St. Petersburg geboren und
ging dort sechs Jahre lang in die "Deutsche Hauptschule zu St. Petri",
wo gezielt Spracherwerb und literarische Interessen der Schülerinnen
gefördert wurden. Im Alter von 16 Jahren erkrankte sie an Lungentuberkulose
und verbrachte dann mehrere Jahre in Sanatorien in Finnland und der Schweiz.
Während ihrer Zeit in Davos von 1911-1914 kam sie mit den neuen literarischen
Strömungen der europäischen Avantgarde in Kontakt und kehrte 1914
kurz vor Kriegsausbruch nach Finnland zurück mit dem Entschluß,
sich als Lyrikerin einen Namen zu machen. Nach der Oktoberrevolution, die
ihre Familie um die Existenzgrundlage brachte, lebte sie unter ärmlichsten
Bedingungen in dem karelischen Dorf Raivola bis zu ihrem Tod. Im Buch "Grundzüge
der neueren skandinavischen Literaturen" von Fritz Paul ist weiter zu
lesen: "Edith Södergran...war kosmopolitisch orientiert und vertraut
mit den neuesten kontinentalen Strömungen, dem französischen und
deutschen Spätsymbolismus, dem Expressionismus und dem russischen Futurismus.
Trotz dieser vielfältigen Einflüsse ist ihre erste Gedichtsammlung
Dikter (1916) ein ganz und gar selbständiges Werk mit einem sehr
persönlichen und in der schwedischen Lyrik bis dahin nicht vernommenen
Klang. Eine bis zum Bersten aufgeladene Phantasie- und Gefühlswelt und
ein unbändiger Ausdruckswille waren die Triebkräfte ihres lyrischen
Temperaments. Unbekümmert um "edle Stile" (Förhöppning,
1918) und um logisch argumentativen Aufbau schrieb sie Gedichte in freien,
meist ungereimten Versen und in einer locker assoziierenden, kaleidoskopartigen
Bildersprache...Die Bände Septemberlyran (1918; Die Septemberlyra),
Rosenaltaret (1919; Der Rosenaltar) und Framtidens skugga (1920;
Schatten der Zukunft; alle dt. in E.S., Feindliche Sterne 1977) enthalten
visionäre Schilderungen ekstatisch-rauschhafter Selbstentgrenzung, kosmischer
Perspektiven und erotisch getönter Glückszustände, in denen
die von Krankheit und Armut niedergedrückte junge Frau sich in zäher
Selbstbehauptung – auch gegen das höhnische Urteil der Zeitgenossen –
eine Traumwelt schuf, die doch am Ende nicht bestehen konnte vor der Wirklichkeit."
Framtidens skugga stellt praktisch den Schlußpunkt des dichterischen
Schaffens von Edith Södergran dar. Lediglich zu der von ihren einzigen
verbliebenen Freunden Hagar Olsson und Elmer Diktonius 1922 begründeten
Zeitschrift Ultra trägt sie noch ein paar Gedichte bei. "Was
sie für sich behalten wollte, wurde 1925 in der Gedichtsammlung Landet
som icke är (Das Land, das es nicht gibt) postum publiziert – gegen
den ausdrücklichen Willen der Dichterin, die in ihrer letzten Zeit systematisch
ihren Nachlaß ordnete, vieles verbrannte und auch von der Mutter verlangte,
nichts den literaturwissenschaftlichen "Leichenwürmern" zu
überlassen. (Kindlers neues Literatur-Lexikon, Studien-ausgabe, Band
15, 1996.)" – Ich weiß, das hier soll eine Plattenrezension werden,
doch schadet es wohl nicht, wenn man auch etwas über die Verfasserin
der Texte erfährt. Dies kann zumindest den Zugang erleichtern.
Noch eine Anmerkung: Um diese Besprechung nicht zu sehr aufzublasen und auch
aus Gründen der Bequemlichkeit will ich dieses Mal auf Inhaltsangaben
zu den Songtexten weitgehend verzichten. Da im Buchhandel zur Zeit leider
keine deutschen Übersetzungen von Edith Södergrans Gedichten zu
bekommen sind, können sich diejenigen, die sich mit meinen zwar nicht
perfekten, aber größtenteils doch recht ordentlichen Übersetzungen
zufriedengeben, an die Betreiber dieser Website wenden.
Der erste Song "Månen" ("Der Mond") verbreitet gleich
passend zum Text eine geheimnisvoll-dunkle und romantische Atmosphäre.
(Überhaupt ist dies wieder ein Album, welches man sich in aller Ruhe
zu Gemüte führen sollte.)
Nach dem sanft beginnenden und verträumt-melancholischen "Landet
som icke är" ("Das Land, das es nicht gibt") folgt mit
"Vierge moderne" ("Moderne Jungfrau") der wohl lebhafteste
Song auf diesem Album, der eine so unbeschwerte Stimmung verbreitet, daß
man dazu auch munter durch die Gegend hüpfen und tanzen könnte.
Mit "Ett liv" folgt wieder ein ruhiger Song, bei dem die Begleitung
überwiegend durch Flügel und Akustik-gitarre erfolgt. Demgegenüber
ist "Zigenerskan" ("Die Zigeunerin") ein sehr lebhaftes
Stück mit treibendem Rhythmus, bei dem es gegen Ende auch noch ein rockiges
Gitarrensolo gibt. – Einer meiner Lieblingssongs auf diesem Album! (Insgesamt
fällt es schwer, einzelne Songs hervorzuheben, da alle auf einem hohen
Niveau liegen.)
Das fast ausschließlich vom Flügel begleitete beruhigende "Nocturne"
klingt wie ein Schlaflied. ("...Schatten fallen auf den Weg, des Strandes
Büsche weinen sanft, schwarze Riesen bewachen des Strandes Silber. Tiefe
Stille in des Sommers Mitte, Schlaf und Traum, - der Mond gleitet über
das Meer, weiß und zärtlich.")
"Lyckokatt" ("Glückskatze") beginnt auch wieder mit
sanfter Flügelbegleitung, geht dann aber in einen schnellen Teil über.
Beide Teile werden wiederholt, der schnelle allerdings jetzt rein instrumental,
bevor das Stück ruhig und langsam ausklingt.
"Dagen svalnar..." ("Der Tag kühlt sich ab...") ist
der vielleicht ruhigste Song mit reiner Akustikgitarrenbe-gleitung (von einigen
dezenten Einsprengseln des Kontrabasses abgesehen).
Das nachfolgende "Mitt liv, min död och mitt öde" ("Mein
Leben, mein Tod und mein Schicksal") verbreitet eine eher düstere
Atmosphäre, vor allem textlich: "...Alles ist Finsternis um mich
herum, alles ist Finsternis um mich herum, ich kann nicht einen Strohhalm
heben...".
Bei dem ruhigen "Vi kvinnor" ("Wir Frauen") ist vor allem
der sehr schöne Instrumentalteil gegen Ende hervorzuheben. Mit "Kyrkogårdsfantasi"
("Friedhofsfantasie") folgt der wohl unheimlichste Song dieses Albums,
sowohl was die musikalische als auch die textliche Seite betrifft. ("Was
ist es, das auf dem Friedhof erklingt: Mein Eigen! Mein Liebster! Wer ist
es, der im Nebel ruft? Es ist die Frau des Kriegers, die ihrem Mann entgegeneilt...")
– Müßte eigentlich auch einsame Prinzessinnen, Fürsten der
Dunkelheit, schwarze Ritter und Vampire ansprechen, sofern diese nicht beim
Wort "Jesusbarnet" ("das Jesuskind") mit Ausschlag und
Hustkrämpfen reagieren!
Das nachfolgende "I mörkret" ("In der Dunkelheit")
ist wieder ein sanftes, ruhiges Stück. "Jag såg ett träd..."
("Ich sah einen Baum...") steigert sich langsam bis zu einem dramatisch
klingenden Mittelteil ("ich sah eine Frau, die lächelnd und geschminkt
um ihr Glück würfelte und sah, daß sie verlor.").
Beendet wird die Platte mit dem traurig-melancholisch klingenden "Ankomst
till Hades" ("Ankunft im Hades"), das einem schon den einen
oder anderen Schauer über den Rücken jagen kann und zu meinen Lieblingsstücken
auf dieser Platte gehört: "Sieh, hier ist der Strand der Ewigkeit,
hier rauscht der Strom vorbei, und der Tod spielt in den Büschen seine
selbe eintönige Melodie. Tod, warum verstummtest du? Wir sind von weit
her gekommen und sind hungrig zu hören, wir haben nie eine Amme gehabt,
die singen konnte wie du. Den Kranz, der nie meine Stirn geschmückt,
lege ich still zu deinen Füßen. Du wirst mir ein wunder-bares Land
zeigen, wo hohe Palmen stehen, und wo zwischen Säulenreihen des Verlangens
Wogen verlaufen."
Wer gerne eine genaue Stilbeschreibung der Musik auf diesem Album hätte,
den muß ich enttäuschen: Mir fällt keine ein! Alles, was ich
sagen kann, ist, daß die Musik auf dieser Platte sehr abwechslungsreich
und originell ist, völlig unamerikanisch klingt und ebenso wie der Gesang
sehr gut zu den Texten paßt.
Auch wenn ich mich wiederholen sollte: Es ist zutiefst betrüblich – nein,
eigentlich ein Skandal! –, daß diese Platte ebenso wie die schon zu
Beginn erwähnte "Haugtussa" bislang in Deutschland nicht veröffentlicht
worden ist! A.U.F.W.A.C.H.E.N., I.H.R. S.C.H.L.A.F.M.Ü.T.Z.E.N.!!!!!
(Auch die Damen und Herren im Hause Orkus, Astan, Zillo und Sonic Seducer
dürfen sich an dieser Stelle ruhig angesprochen fühlen – sofern
sich mal zufällig einer auf diese Seite verirren sollte!)
Immerhin kann man auch "Ett liv" beim ars!-Versand
in Hamburg bekommen. Die CDs sind dort zwar nicht gerade billig, aber in Schweden
oder Norwegen dürften die CDs kaum billiger sein.
- Burkhard - 09/99
[Eine Übersetzung der Texte - ohne Anspruch auf völlige Korrektheit - ist bei Burkhard erhältlich. Siehe Impressum]