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LILL LINDFORS – Ett liv ('98)

Nach "Løsrivelse" von Kari Bremnes und "Haugtussa" von Lynni Treekrem ist mit "Ett liv" ein weiteres faszinierendes Album mit Vertonungen von Gedichten erschienen, wobei die Musik abermals von Ketil Bjørnstad stammt, der auf dieser Platte auch wieder am Flügel zu hören ist. Daneben wirken mit Mads Bergström an der Gitarre, Arild Andersen am Baß sowie Per Lindvall an den Drums. Über die Sängerin Lill Lindfors weiß ich so gut wie nichts. Ihre sich meist in einer mittleren Tonlage bewegende Stimme würde ich als etwas "dunkel" und "herb" charakterisieren. Diejenigen, die allergisch auf hohe Frauenstimmen reagieren (soll´s ja geben), dürften insoweit keine Probleme mit dieser Platte.
Bei den Songtexten handelt es sich um 14 Gedichte der Finnlandschwedin Edith Södergran (1892-1923), die als eine der Bahnbrecherinnen des lyrischen Modernismus in Skandinavien gilt. Sie wurde in St. Petersburg geboren und ging dort sechs Jahre lang in die "Deutsche Hauptschule zu St. Petri", wo gezielt Spracherwerb und literarische Interessen der Schülerinnen gefördert wurden. Im Alter von 16 Jahren erkrankte sie an Lungentuberkulose und verbrachte dann mehrere Jahre in Sanatorien in Finnland und der Schweiz. Während ihrer Zeit in Davos von 1911-1914 kam sie mit den neuen literarischen Strömungen der europäischen Avantgarde in Kontakt und kehrte 1914 kurz vor Kriegsausbruch nach Finnland zurück mit dem Entschluß, sich als Lyrikerin einen Namen zu machen. Nach der Oktoberrevolution, die ihre Familie um die Existenzgrundlage brachte, lebte sie unter ärmlichsten Bedingungen in dem karelischen Dorf Raivola bis zu ihrem Tod. Im Buch "Grundzüge der neueren skandinavischen Literaturen" von Fritz Paul ist weiter zu lesen: "Edith Södergran...war kosmopolitisch orientiert und vertraut mit den neuesten kontinentalen Strömungen, dem französischen und deutschen Spätsymbolismus, dem Expressionismus und dem russischen Futurismus. Trotz dieser vielfältigen Einflüsse ist ihre erste Gedichtsammlung Dikter (1916) ein ganz und gar selbständiges Werk mit einem sehr persönlichen und in der schwedischen Lyrik bis dahin nicht vernommenen Klang. Eine bis zum Bersten aufgeladene Phantasie- und Gefühlswelt und ein unbändiger Ausdruckswille waren die Triebkräfte ihres lyrischen Temperaments. Unbekümmert um "edle Stile" (Förhöppning, 1918) und um logisch argumentativen Aufbau schrieb sie Gedichte in freien, meist ungereimten Versen und in einer locker assoziierenden, kaleidoskopartigen Bildersprache...Die Bände Septemberlyran (1918; Die Septemberlyra), Rosenaltaret (1919; Der Rosenaltar) und Framtidens skugga (1920; Schatten der Zukunft; alle dt. in E.S., Feindliche Sterne 1977) enthalten visionäre Schilderungen ekstatisch-rauschhafter Selbstentgrenzung, kosmischer Perspektiven und erotisch getönter Glückszustände, in denen die von Krankheit und Armut niedergedrückte junge Frau sich in zäher Selbstbehauptung – auch gegen das höhnische Urteil der Zeitgenossen – eine Traumwelt schuf, die doch am Ende nicht bestehen konnte vor der Wirklichkeit." Framtidens skugga stellt praktisch den Schlußpunkt des dichterischen Schaffens von Edith Södergran dar. Lediglich zu der von ihren einzigen verbliebenen Freunden Hagar Olsson und Elmer Diktonius 1922 begründeten Zeitschrift Ultra trägt sie noch ein paar Gedichte bei. "Was sie für sich behalten wollte, wurde 1925 in der Gedichtsammlung Landet som icke är (Das Land, das es nicht gibt) postum publiziert – gegen den ausdrücklichen Willen der Dichterin, die in ihrer letzten Zeit systematisch ihren Nachlaß ordnete, vieles verbrannte und auch von der Mutter verlangte, nichts den literaturwissenschaftlichen "Leichenwürmern" zu überlassen. (Kindlers neues Literatur-Lexikon, Studien-ausgabe, Band 15, 1996.)" – Ich weiß, das hier soll eine Plattenrezension werden, doch schadet es wohl nicht, wenn man auch etwas über die Verfasserin der Texte erfährt. Dies kann zumindest den Zugang erleichtern.
Noch eine Anmerkung: Um diese Besprechung nicht zu sehr aufzublasen und auch aus Gründen der Bequemlichkeit will ich dieses Mal auf Inhaltsangaben zu den Songtexten weitgehend verzichten. Da im Buchhandel zur Zeit leider keine deutschen Übersetzungen von Edith Södergrans Gedichten zu bekommen sind, können sich diejenigen, die sich mit meinen zwar nicht perfekten, aber größtenteils doch recht ordentlichen Übersetzungen zufriedengeben, an die Betreiber dieser Website wenden.
Der erste Song "Månen" ("Der Mond") verbreitet gleich passend zum Text eine geheimnisvoll-dunkle und romantische Atmosphäre. (Überhaupt ist dies wieder ein Album, welches man sich in aller Ruhe zu Gemüte führen sollte.)
Nach dem sanft beginnenden und verträumt-melancholischen "Landet som icke är" ("Das Land, das es nicht gibt") folgt mit "Vierge moderne" ("Moderne Jungfrau") der wohl lebhafteste Song auf diesem Album, der eine so unbeschwerte Stimmung verbreitet, daß man dazu auch munter durch die Gegend hüpfen und tanzen könnte.
Mit "Ett liv" folgt wieder ein ruhiger Song, bei dem die Begleitung überwiegend durch Flügel und Akustik-gitarre erfolgt. Demgegenüber ist "Zigenerskan" ("Die Zigeunerin") ein sehr lebhaftes Stück mit treibendem Rhythmus, bei dem es gegen Ende auch noch ein rockiges Gitarrensolo gibt. – Einer meiner Lieblingssongs auf diesem Album! (Insgesamt fällt es schwer, einzelne Songs hervorzuheben, da alle auf einem hohen Niveau liegen.)
Das fast ausschließlich vom Flügel begleitete beruhigende "Nocturne" klingt wie ein Schlaflied. ("...Schatten fallen auf den Weg, des Strandes Büsche weinen sanft, schwarze Riesen bewachen des Strandes Silber. Tiefe Stille in des Sommers Mitte, Schlaf und Traum, - der Mond gleitet über das Meer, weiß und zärtlich.")
"Lyckokatt" ("Glückskatze") beginnt auch wieder mit sanfter Flügelbegleitung, geht dann aber in einen schnellen Teil über. Beide Teile werden wiederholt, der schnelle allerdings jetzt rein instrumental, bevor das Stück ruhig und langsam ausklingt.
"Dagen svalnar..." ("Der Tag kühlt sich ab...") ist der vielleicht ruhigste Song mit reiner Akustikgitarrenbe-gleitung (von einigen dezenten Einsprengseln des Kontrabasses abgesehen).
Das nachfolgende "Mitt liv, min död och mitt öde" ("Mein Leben, mein Tod und mein Schicksal") verbreitet eine eher düstere Atmosphäre, vor allem textlich: "...Alles ist Finsternis um mich herum, alles ist Finsternis um mich herum, ich kann nicht einen Strohhalm heben...".
Bei dem ruhigen "Vi kvinnor" ("Wir Frauen") ist vor allem der sehr schöne Instrumentalteil gegen Ende hervorzuheben. Mit "Kyrkogårdsfantasi" ("Friedhofsfantasie") folgt der wohl unheimlichste Song dieses Albums, sowohl was die musikalische als auch die textliche Seite betrifft. ("Was ist es, das auf dem Friedhof erklingt: Mein Eigen! Mein Liebster! Wer ist es, der im Nebel ruft? Es ist die Frau des Kriegers, die ihrem Mann entgegeneilt...") – Müßte eigentlich auch einsame Prinzessinnen, Fürsten der Dunkelheit, schwarze Ritter und Vampire ansprechen, sofern diese nicht beim Wort "Jesusbarnet" ("das Jesuskind") mit Ausschlag und Hustkrämpfen reagieren!
Das nachfolgende "I mörkret" ("In der Dunkelheit") ist wieder ein sanftes, ruhiges Stück. "Jag såg ett träd..." ("Ich sah einen Baum...") steigert sich langsam bis zu einem dramatisch klingenden Mittelteil ("ich sah eine Frau, die lächelnd und geschminkt um ihr Glück würfelte und sah, daß sie verlor.").
Beendet wird die Platte mit dem traurig-melancholisch klingenden "Ankomst till Hades" ("Ankunft im Hades"), das einem schon den einen oder anderen Schauer über den Rücken jagen kann und zu meinen Lieblingsstücken auf dieser Platte gehört: "Sieh, hier ist der Strand der Ewigkeit, hier rauscht der Strom vorbei, und der Tod spielt in den Büschen seine selbe eintönige Melodie. Tod, warum verstummtest du? Wir sind von weit her gekommen und sind hungrig zu hören, wir haben nie eine Amme gehabt, die singen konnte wie du. Den Kranz, der nie meine Stirn geschmückt, lege ich still zu deinen Füßen. Du wirst mir ein wunder-bares Land zeigen, wo hohe Palmen stehen, und wo zwischen Säulenreihen des Verlangens Wogen verlaufen."
Wer gerne eine genaue Stilbeschreibung der Musik auf diesem Album hätte, den muß ich enttäuschen: Mir fällt keine ein! Alles, was ich sagen kann, ist, daß die Musik auf dieser Platte sehr abwechslungsreich und originell ist, völlig unamerikanisch klingt und ebenso wie der Gesang sehr gut zu den Texten paßt.
Auch wenn ich mich wiederholen sollte: Es ist zutiefst betrüblich – nein, eigentlich ein Skandal! –, daß diese Platte ebenso wie die schon zu Beginn erwähnte "Haugtussa" bislang in Deutschland nicht veröffentlicht worden ist! A.U.F.W.A.C.H.E.N., I.H.R. S.C.H.L.A.F.M.Ü.T.Z.E.N.!!!!! (Auch die Damen und Herren im Hause Orkus, Astan, Zillo und Sonic Seducer dürfen sich an dieser Stelle ruhig angesprochen fühlen – sofern sich mal zufällig einer auf diese Seite verirren sollte!)
Immerhin kann man auch "Ett liv" beim ars!-Versand in Hamburg bekommen. Die CDs sind dort zwar nicht gerade billig, aber in Schweden oder Norwegen dürften die CDs kaum billiger sein.

- Burkhard - 09/99

[Eine Übersetzung der Texte - ohne Anspruch auf völlige Korrektheit - ist bei Burkhard erhältlich. Siehe Impressum]