Der folgende Text wurde, mit Ausnahme von ein paar Rechtschreibkorrekturen,
aus dem Nonkonform bzw. Ascension #4 übernommen. Im Nachhinein, nach
vier Jahren, denke ich mir, man hätte vieles besser machen können,
angefangen beim Interview selbst. Doch dafür, daß wir uns kaum
auf das Gespräch vorbereitet hatten, gehen Fragen und Antworten erstaunlich
fließend ineinander über. Erst später haben wir erfahren,
daß die New Model Army urspünglich vorhatten, sich nach dem Auftritt
beim Strange Noise Festival aufzulösen. Wie wir alle wissen, haben sie
es sich doch noch anders überlegt und als Ergebnis dieses inneren Zwiespalts
im Frühjahr '98 den langerwarteten Nachfolger des 93er Albums "The Love
Of Hopeless Causes", die Scheibe "Strange Brotherhood", veröffentlicht.
Trotzdem wird mir immer noch ganz komisch bei dem Gedanken, daß wir
als absolut unbekanntes Fanzine fast das möglicherweise letzte Interview
mit New Model Army (bzw. mit Justin Sullivan als Mitglied von New Model Army)
gemacht hätten.
Ein anderer "Schwachpunkt" mag die fast wörtliche Übernahme des
übersetzten Gesprächs in den gedruckten Text sein, es wurden zudem
kaum Kürzungen vorgenommen. Man mag dies als besondere Authentizität
ansehen, auf die in Fanzines großer Wert gelegt wird, man mag diesen
Mangel an editorischer Bearbeitung auch als naive Wortgläubigkeit oder
als zwanghafte Chronistenpflicht verspotten.
Ich finde das Interview immer noch gut und aufschlußreich und möchte
nach so langer Zeit nichts mehr daran verändern oder ergänzen.
Da ist es also: Das Interview mit der kommerziell erfolgreichsten Band,
die wir je mit Interview im Heft hatten, und das zugleich in der Ausgabe mit
der kleinsten Auflage erschien. - Martin - 07/00
NEW MODEL ARMY sind neben ANACRUSIS, SKYCLAD und vielleicht den LEVELLERS
der kleinste gemeinsame Nenner von Heiko und mir, was Musik anbelangt. Da
paßte es ideal, daß Justin Sullivan (Sänger und, neben Rob
Heaton, Kopf von NMA) am 24. Juli ‘96 in Nürnberg im „Hirsch“ auftrat.
Und zwar allein und „unplugged“ - quasi die Essenz von NMA.
Heiko hatte zwar telefonisch wegen eines Interviews angefragt, aber etwas
Konkretes hatte er nicht ausmachen können. Infolgedessen hatte ich mich
nur auf ein entspanntes Konzert eingerichtet, und Herr K. hatte auch nur ein
paar provisorische Fragen auf einen Zettel gemalt. Nachdem uns der Tourmanager,
den wir mit Joolz (die Sängerin und Künstlerin, die die Covers malt
und Justins „best friend“ ist) im Biergarten vor dem „Hirsch“ sitzend antrafen,
erklärt hatte, daß das schon in Ordnung geht, überlegten wir
uns beim Essen in der angliederten Kneipe, was wir jetzt eigentlich genau
von Justin Sullivan wissen wollten (natürlich ALLES, aber man muß
da etwas selektieren).
Nun gut, erst mal kam das Konzert. Das „Hirsch“ ist eine umgebaute Fabrikhalle,
sieht aber trotzdem recht gemütlich aus. Bis zum Beginn fanden sich etwa
200 Leute ein, von denen sich ein Teil auf den Bierbänken vor der Bühne
niederließ und der Rest sich locker im Raum verteilte. Interessant war
die Zusammensetzung des Publikums: vom Punk bis zum 13jährigen Mädchen,
das mit seiner Mutter kam (beide in NMA-T-Shirts) war alles da.
Justin Sullivan stand allein mit seiner Akustik-Gitarre und einer Flasche
„Volvic“-Mineralwasser auf der Bühne und wurde nur teilweise von einem
E-Gitarristen, der im Dunkel des Bühnenrandes stand, unterstützt.
Ich kann mich nicht mehr an alle Songs erinnern, die gespielt wurden, aber
speziell von den neuen Sachen blieben mir „Turn Away“, „No Pain“ und „Stop
The Killing“ eindrücklich in Erinnerung. „The Hunt“ wirkte in de Ein-Mann-Version
noch bedrohlicher und wurde beim Refrain richtig heftig. Desweiteren gab es
„All Of This“, „Master Race“ („GODDAMN this master race that we're born in!“)
und natürlich „Green And Grey“, das für eine Show wie diese geradezu
prädestiniert ist. Zu gerne hätte ich „Vengeance“ oder „51st State“
gehört, aber man kann nicht alles haben. Dafür gab’s „225“.
Im Anschluß an das Konzert saßen wir mit Justin in so einem Container
hinter der Halle. Es ist ihm hoch anzurechnen, daß er trotz der etwas
nervigen Situation - ständig standen oder liefen irgendwelche Leute herum
- konzentriert auf unsere Fragen einging und in seinem Redefluß nicht
beeinträchtigt wurde.
Natürlich hätte man das Gespräch noch Stunden weiterführen
können, Heiko wird mir da ganz besonders zustimmen, vor allem da
Justins Aussagen neue Fragen aufgeworfen haben und sicherlich auch genug Stoff
für kontroverse Diskussionen bieten würden.
Justin Sullivan machte auf mich den Eindruck eines Menschen, der hundertprozentig
hinter dem steht, was er sagt. Jemand, der kompromißlos sein Ding durchzieht,
mag von manchen belächelt werden, vielleicht auch engstirnig genannt
werden, er ist mir aber immer noch lieber als jemand der leere Gutmenschen-Phrasen
als eigene Ideen verkaufen will.
Geführt wurde das Interview hauptsächlich von Heiko; übersetzt,
bearbeitet und getippt wurde es von Martin.
NK: Es war eine tolle Show, sehr intensiv.
Justin: Vielen Dank, es hat mir auch Spaß gemacht. Heute Nacht war das
zweite Mal, und ich bin überrascht, wie gut es mir gefallen hat. Es ist
irgendwie „natürlicher“, so da draußen zu stehen und einfach drauflos
zu spielen, ohne Band, ohne großen Aufwand, ohne große Halle.
Hier war’s nur ein kleiner Club und ein kleines Publikum, es kam eine direktere
Kommunikation zustande.
NK: (Aufgeregtes Kramen nach dem Zettel; die dumme Frage zuerst) Wann wird
das neue Album rauskommen, kannst du uns da schon etwas sagen?
J: Ich kann dir darauf keine hinreichende Antwort geben.
NK: Du weißt es selbst noch nicht?
J: Vor ungefähr einem Jahr habe ich angefangen, neue Songs zu schreiben,
und jetzt habe ich Material für ungefähr zwei oder drei Alben. Wir
haben jetzt unzählige Stunden auf Band, aber für mich und Robert
(Heaton) klingt alles noch nicht gut genug, wir kommen irgendwie nicht richtig
weiter.
Die Situation ist schwierig: Es ist sehr leicht für uns NEW MODEL ARMY
zu sein. Wir setzen uns in einen Raum, fangen an zu spielen - und fertig.
Und so klang auch das letzte Album („The Love Of Hopeless Causes“), one
band in a room, ein eher geradliniges Rock-Album. Das können wir
nicht noch mal machen, wir wollen dies auch gar nicht. Bisher unterschied
sich jedes Album vom Vorgänger. Wir fingen mit Punk-Rock an, dann wurde
es mal leicht folky, die Violine und so, und plötzlich war die
Welt voll mit Bands, die einen Violinisten hatten, da mußten wir etwas
anderes machen. Man könnte sehr erfolgreich werden und viel Geld machen,
wenn man einen gewinnträchtigen Stil gefunden hat und diesen beibehält,
aber auf diese Weise gibt es keine musikalischen Herausforderungen, keine
neuen Sounds, keine neuen Ideen, irgendwann langweilt es dich.
Obwohl NMA nun schon lange existieren, läßt sich noch die Intensität
spüren, die Direktheit, die Leidenschaft. Wir haben nie Kompromisse geschlossen.
Manchmal haben wir neue Leute in der Band, manchmal nicht, manchmal tauchen
neue Instrumente auf, die vielleicht beim nächsten Album wieder verschwinden.
Wir probieren immer wieder neue Ideen aus. Ebenso auf dem neuen Album, nur,
sie passen noch nicht und...
NK: Ihr wollt euch Zeit lassen, bis ihr wirklich mit dem Ergebnis zufrieden
seid.
J: Richtig.
NK: Werden die neuen Songs, die heute gespielt wurden, auch auf der neuen
LP zu hören sein?
J: (hat diese Frage vermutlich schon tausend Mal gehört) Es sind so viele
Songs, ich kann es nicht sagen.
NK: Sie klangen wirklich großartig!
J: Danke. Viele von den Songs, die ich heute gespielt habe, wurden für
die Akustik-Gitarre geschrieben, und vielleicht müssen sie noch abgeändert
werden, wenn wir sie in der Band spielen wollen. Sehr kompliziert. Wenn man
erfolgreich sein will und Kohle machen, ist nichts kompliziert, aber was die
Sache so schwierig macht, sind die Menschen; mit denen man zusammen spielt;
wir machen uns das Leben absichtlich schwer, ha, ha.
NK: Und diese Solo-Tour machst du, weil Du keine Kompromisse eingehen willst?
J: Morgen werde ich auf dem Strange-Noise-Festival spielen. Ich habe noch
nie da gespielt, darum wollte ich erst ein paar kleinere Shows machen, gestern
in Gelsenkirchen, heute hier; um Erfahrung zu sammeln, bevor ich auf eine
größere Bühne trete. Es waren Warm-Up-Shows, aber sie haben
mir wirklich Spaß gemacht; ich denke, ich werde sowas nun öfter
machen. Genauso wir die Sachen mit NMA und RED SKY COVEN. Ich bin eigentlich
kein Musiker, ich bin Songwriter; was mich interessiert ist Kommunikation.
Musiker lieben ihr Instrument, ich möchte Gedanken austauschen.
NK: Hier konntest Du leichter mit dem Publikum in Kontakt treten.
J: Hast du RED SKY COVEN gesehen?
NK: RED SKY COVEN?
J: Das ist ein anderes Projekt. Wir haben ungefähr fünf Tourneen
durch Deutschland gemacht. Es besteht aus mir, Joolz, der Dichterin und Rev
Hammer, einem anderen Songwriter. In diesen Shows kombinieren wir Dichtung
und Folk-Musik. Aber dort sind wir drei Leute, und hier bin ich allein und...
es ist sehr natürlich, ein ursprüngliches Gefühl.
NK: Da war ein neuer Song: „Headlights“.
J: Es waren acht neue Songs.
NK: Es geht darum um Furcht und Schmerz in Deiner Kindheit, die Dich Dein
ganzes Leben lang begleitet haben?
J: Genau, ich hab’ sie mit mir rumgeschleppt wie der Glöckner von Notre
Dame seinen Buckel.
NK: In diesem Song bist du ein alter Mann, der auf sein Leben zurückblickt
und feststellt, daß man ein Leben lang mit dieser Furcht und diesem
Schmerz kämpfen muß.
J: Nun, man muß nicht damit kämpfen, man muß irgendwie damit
zurechtkommen. Das ist alles ein Teil von dir, man muß es akzeptieren
und das Beste daraus machen. Als Musiker hat man es da leichter, da man Furcht
und Angst leichter ausdrücken kann.
NK: Du kannst sie in deiner Musik ausleben.
J: Genau. Und darum sind Musiker eigentlich glücklichere Menschen.
NK: Aber die Kindheit besteht ja nicht nur aus negative Erlebnissen. Auch
die schönen Seiten begleiten einen das ganze Leben.
J: Meine Kindheit war größtenteils glücklich. Aber die Kindheit
der meisten Menschen, die ich kenne war katastrophal, und das macht ihnen
immer noch zu schaffen. Ich habe ja eben im Konzert gesagt, daß die
meisten Songs nicht von mir selbst handeln. Es würde mich ziemlich langweilen,
andauernd nur von mir selbst zu schreiben oder zu singen.
NK: Das ist neu für mich.
J: Nein, nein. Ein paar Songs handeln schon von mir, aber „Headlights“ nicht,
„Green And Grey“ auch nicht. (War da jetzt irgendwo ein Widerspruch? -
Martin)
NK: Und was ist mit „Vengeance“? Stammt das aus Deiner Jugendzeit?
J: Die Gedanken und Gefühle, die in „Vengeance“ zum Ausdruck kommen,
habe ich immer noch, darum spielen wir es auch weiterhin. Ich liebe diesen
Song. Jeder Musiker oder Songwriter hat ein gewisses Selbstverständnis.
Sagen wir es mal so: Es gibt die „good guys“, wie z. B. U2 oder Bruce Springsteen,
die letztendlich in ihrer Musik die Botschaft von Liebe, Hoffnung und Menschenwürde
rüberbringen wollen.
Die andere Seite sind die „bad guys“, die über „sex, drugs and
rock’n’roll“ singen. Aber das wirkliche Leben spielt sich nicht in diesen
Extremen ab. Es gibt Tage, da wachst du auf und denkst: „Ah, das Leben ist
schön! Great!“. Am nächsten Tag denkst du: „Fuck! Ich hasse die
Welt! Ich wünschte die Apokalypse käme schon morgen!“. So sieht’s
wirklich aus. Die Medien hatten immer ein Problem, uns einzuordnen. Wir haben
Lieder über Liebe und Hoffnung, aber auch solche, die das genaue Gegenteil
darstellen, wie „The Hunt“ oder „Vengeance“.
NK: Oder auch „51st State“...
J: Hm, „51st State“ ist nicht direkt von uns, darum möchte ich dazu nichts
sagen. Es hat einen ziemlich politischen, einen polemischen Text. „The Hunt“
(wo Justin darlegt, wie seiner Meinung nach mit Drogendealern verfahren
werden sollte - Martin) oder „Shot 18“ drücken Rachegefühle
aus. Rache ist ein natürliches menschliches Gefühl. Kein schönes
Gefühl, aber es ist nun mal da.
NK: Würdest du Songs wie „The Hunt“ oder „Vengeance“ auch heute noch
schreiben?
J: Schau’ dir „Here Comes The War“ an, das ist auch kein „schöner“ Song.
NK: Ich finde, die neuen Songs sind eher abstrakt, die alten sind konkreter,
politischer.
J: Die neuen Songs sind persönlicher. Wenn man anfängt, Songs zu
schreiben will man unbedingt deutlich machen „Ich glaube an dies und das.
Das ist richtig und das ist falsch“. Ich habe noch die gleichen Ideale wie
vor 15 Jahren, aber ich kann nicht den gleichen Song wieder und wieder schreiben.
Stimmt, die ersten Alben waren politischer und auch polemischer; ich stehe
dazu.
Viele Leute meinen, ich sollte mehr politische Sachen schreiben, weniger persönliche
Songs. Aber: Was die Menschen wirklich bewegt, was ihr Leben betrifft, das
ist nicht das politische Geschehen, sondern die Beziehung zu ihren Eltern,
zu den Menschen, die sie lieben. Das sind die Dinge, die wirklich tief gehen.
Der Song, auf den ich die meisten Reaktionen bekam, ist „Ghost Of Your Father“,
obwohl es nur en B-Seiten-Song ist. Die Beziehung zu deinen Eltern entscheidet
über dein ganzes weiteres Leben. Darum denke ich, daß solche Songs
über die Beziehungen zwischen Menschen die eigentlich wichtigeren sind.
NK: „Believe It“ ist auch ein sehr persönlicher Song.
J: Ja, ein Song mit einem sehr schrecklichen Thema.
NK: Schmerz und Leid.
J: Da schaut einer auf sein Leben zurück und sagt: „I can’t believe it.
Was ist da falsch gelaufen?“. Du kennst sicher „My Way“ von Frank Sinatra.
Dessen Kernaussage ist: „Ich habe viel zu bedauern, aber was nützt es,
wenn ich immer daran denke?“. Ich glaube, das geht vielen Menschen so.
NK: Was bedeutet eigentlich der Titel des Albums „The Love Of Hopeless
Causes“? Man kann ihn sehr vielseitig interpretieren.
J: Viele NMA-Songs handeln davon, etwas nachzujagen, das man nie bekommen
wird. Vielleicht soll man dieses Etwas gar nicht bekommen, vielleicht ist
die Jagd selbst der Zweck des Ganzen. Und es ist deswegen ein „hoffnungsloser
Fall“ weil wir gar nicht wissen, wie wir dieses Etwas umschreiben sollen.
Trotzdem jagen wir ihm weiter nach.
NK: In „I Love The World“ oder in „Here Comes The War“ malst du ja ein
ziemlich düsteres Bild, was die Zukunft der Welt betrifft, die wir unseren
Kindern und Enkeln hinterlassen. Bist du eher ein pessimistischer Mensch?
J: In gewisser Weise sind das pessimistische Songs. Es gibt Menschen, die
keine Kinder haben wollen, da sie glauben, daß ihnen keine gute Zukunft
bevorsteht. Doch sind wir nicht auch in eine schlechte Welt hinein geboren
worden - und sind wir nicht auch damit fertig geworden? Wir kennen einfach
nichts anderes. Wenn du einmal Kinder haben wirst, werden diesen die 70er
oder 80er Jahre egal sein, sie werden die Welt so nehmen, wie sie sie vorfinden.
Die Menschen werden immer der Ansicht sein, daß das Leben aus Trauer,
Leid, Gefahr und Gewalt besteht. Sie haben recht damit, denn es wird immer
so sein. Ich glaube, daß der Mensch auch nur eine Art Tier ist. Wir
sind der irrigen Meinung, daß wir vernunftmäßig handeln können.
5% all unserer Handlungen beruhen auf Vernunft, die anderen 95% sind Instinkt.
Alles ist vorprogrammiert. Nicht vorprogrammiert wie ein Computer, sondern,
sagen wir mal, wie ein Affe oder ein Löwe - wir sind Tiere.
NK: Das sehe ich nicht so.
J: Das Problem der Menschheit besteht darin, daß wir glauben, wir könnten
uns über die Natur erheben. Ich akzeptiere deine Meinung, aber so sehe
ich es.
NK: Aber die meisten Instinkte in unserer Zivilisation...
J (unterbricht): „Zivilisation“ ist eine ziemlich relative Sache. Wir in unserer
westlichen Zivilisation glauben, daß wir „zivilisierter“ seien, als
irgend ein Stamm am Amazonas. Das ist falsch; wir haben eine andere Zivilisation,
aber keine bessere. Das heißt nicht, daß sie schlechter wäre.
Unsere Zivilisation ist destruktiver, und letztendlich werden wir uns selbst
vernichten und von der Erde verschwinden. Aber das Leben an sich wird wieder
neu entstehen.
NK: In „Here Comes The War“ kommt die Zeile vor: „Put out the lights on
the age of reason“...
J: „The Age Of Reason“ ist ein historischer Begriff, das Zeitalter der Aufklärung,
das 17. und 18. Jahrhundert. Die Zeit in der der Grundstein für unsere
heutige Zivilisation gelegt wurde, also gleich nach der Reformation. In der
Aufklärung wurde der These widersprochen, daß der Mensch auf tierische
Instinkte zurückzuführen ist. Der Mensch hat sich über die
Natur erhoben. „Here Comes The War“ hat aber nicht nur den Krieg zum Inhalt;
es herrscht immer irgendwo Krieg. Es geht in dem Song um die latente Spannung
in unserer Welt. Immer nach Kriegen entspannt sich die Welt und die Menschen
fühlen sich wiedergeboren. 1945 war so ein Zeitpunkt, auch in den 60er
Jahren blickten die Menschen optimistisch in die Zukunft. Das ist charakteristisch
für unsere Zivilisation, aber dieser Optimismus verfault mit der Zeit.
Und dann passiert etwas „Großes“, und normalerweise ist es Krieg. Die
Geschichte besteht aus Kriegen, Hungersnöten und Krankheiten. Doch alles
fließt, ist ein Kreislauf: nach dem nächsten „big bang“, was immer
auch das sein wird, werden Menschen überlebt haben, die wieder von vorne
anfangen, und sie werden sagen: „Diesmal machen wir es besser“.
NK: Eine Frage zum „Road Building Project“ in England. Du hast an den Protestaktionen
teilgenommen - glaubst du, daß dieser Kampf, oder Protest überhaupt,
irgend etwas verändern kann?
J (kurz und bestimmt): Ja. Es wird sich etwas ändern. Es wird diese Zivilisation
nicht besser machen, aber letztendlich wird das „Road Building Project“ gestoppt
werden.
NK: Wer nicht kämpft, hat schon verloren?
J: Ich bin von Natur aus Kämpfer. Manche Leute sind von Natur aus Kämpfer,
andere sind es nicht. Manchen Menschen reicht ihre Gartenarbeit, oder daß
sie Angeln gehen können, oder Kricket spielen. Das hängt vom Charakter
ab. Ich sehe das so: Jeden Abend siehst du im Fernsehen die Nachrichten, hörst
diese verdammten korrupten Politiker sprechen, und du denkst: „Mann, ist das
alles verrückt“. Das Schlechteste, was du tun kannst, ist, in deinem
Sessel zu sitzen und irgendwelche Sachen auf den Fernseher zu werfen und alles
in dich hineinzufressen. So wird man zu einem alten, zynischen Menschen mit
der Einstellung „Da kann man eh’ nichts machen“. Ich persönlich fühle
mich besser, wenn ich etwas tun kann. Das Kämpfen hält mich am Leben.
NK: Das wird in deiner Musik und deinen Texten sehr deutlich.
J: Sicher.
NK: Jetzt kommt eine schwierige Frage. Siehst du dich selbst so, wie du
es in „Vagabonds“ beschrieben hast“...
J: Hm, „Vagabonds“ ist ein sehr romantisch verklärtes Bild, aber ich
finde es gut.
NK: Ist da auch etwas in dir, das nie ruhen wird?
J: Ja.
NK: Oder um den Song „Before I Get Old“ fortzuführen: „I never get
old“?
J: Mein Urururgroßvater war ein irischer Wanderprediger, deshalb liegt
mir es im Blut, durch die Welt zu wandern und den Menschen zu predigen.
NK: Du siehst dich also als eine Art „Prediger“?
J: Das ist eine interessante Frage. Man könnte sagen, einerseits sind
NMA Prediger, andererseits sind wir Künstler. Das sind zwei unterschiedliche
Aspekte. Die Medien wollen aber nur Künstler, keine Prediger. Doch diese
Prediger-Seite gibt es nun mal bei NMA, und manchmal brauchen die Menschen
Prediger.
NK: Prediger sind nicht immer positiv zu bewerten. Es wird gefährlich,
wenn Menschen Predigern bedingungslos folgen.
J: Richtig, ja.
NK: Falsche Propheten: Darüber hast du in „Ten Commandments“ geschrieben.
Mir kommt dieser Song etwas kraß vor.
J: It’s a joke song.
NK: Ein „joke song“?
J: OK, kein wirklicher joke song, aber auch nicht der ernsteste Song, den
wir geschrieben haben.
NK: Die Zeile „Back to the desert with Jesus and Mohammed“ ist also nicht
so ernst gemeint?
J: Ich bin Paganist; sagt dir das etwas?
NK: Ich verstehe darunter den deutschen Begriff „Heide“, aber könntest
du ihn etwas genauer erläutern?
J: Ich glaube an die Natur. Wir alle wurden vor dreineinhalbtausendmillionen
Jahren auf der Erde geboren, als das Leben hier begann. Und wir werden dann
sterben, wenn die Erde aufhört zu existieren, wenn sie in die Sonne stürzt.
Dabei ist die Gattung Mensch nicht so wichtig; die Menschen sind erst sehr
kurze Zeit auf der Erde. Alles, was lebendig ist, ist schön und
wertvoll.
Ich glaube an die Erde als etwas, das ein Bewußtsein hat. Die Menschen
sehen Religion oft als etwas, das ich „mambo jambo“ nennen möchte; solche
Begriffe wie „Seele“, irgendwelche Geister, mysteriöse Kräfte, geheime
starke Mächte kommen da vor. Ich sehe das alles viel einfacher. Die Welt
besteht aus Materie, das beinhaltet auch solche Sachen wie Elektrizität.
Jeder weiß, daß das Gehirn aufgrund elektrischer Impulse arbeitet.
Doch andererseits beschäftigen sich die Menschen mit „seltsamen Phänomenen“
und Dingen, die sie „sich nicht erklären können“. Was soll das?
Das ist alles um uns herum, hier auf der Erde, nirgendwo anders. Menschen,
speziell in dieser Kultur bestreiten dies. (Ich glaube, dieser Gedankengang
wurde ähnlich auch schon von einem anderen Künstler aufgegriffen,
der in dieser Publikation des öfteren von Heiko zitiert wurde: „Ich sagte
ihr, die Allgegenwärtigkeit aller Kräfte und Taten sei den alten
Indern sehr wohl bekannt gewesen und die Technik habe lediglich ein kleines
Stück dieser Tatsache dadurch ins allgemeine Bewußtsein gebracht,
daß sie dafür, nämlich für die Tonwellen, einen vorerst
noch grauenhaft unvollkommenen Empfänger und Sender konstruiert habe“.
Man könnte da wieder ein „Preisfrage“ draus machen... - Martin)
NK: Aber das Bewußtsein, wenn man stirbt...
J: Das Bewußtsein, das Bewußt-Sein deiner selbst, ist tot, finished,
gone. (Der Punkt am Ende des Satzes ist hörbar).
NK: Back in mother’s arms...
J: Ich war dort, es war unbeschreiblich. Nie durfte ich etwas Schöneres
erleben. Das ist jetzt vier Jahre her.
NK: Dadurch wurdest du zu dem Song „White Light“ inspiriert?
J: Ja.
NK: Eine „near death experience“ (Nahtod-Erfahrung).
J: Wir leben in einer interessanten Zeit. Das Interesse an Naturreligionen
erwacht wieder. Gleichzeitig gibt es neue Strömungen in der Wissenschaft,
wie die Chaos-Theorie, oder die Gaia-Theorie (die mir nicht bekannt ist;
Gaia war die griechische Erdgöttin - Martin). Früher waren Religion
und Wissenschaft verbunden, und heute lassen sich wieder Tendenzen in diese
Richtung beobachten. Mein Glaube beruht ausschließlich auf Naturwissenschaft.
Begriffe wie „Seele“ oder „Magie“ sind wissenschaftliche Tatsachen für
mich; sie existieren. Aber nicht Magie in dem Sinne wie: „Zünde eine
gelbe Kerze am Donnerstag an, und du wirst reich“. Das funktioniert nicht,
das ist „mambo jambo“. Magie ist z. B., wenn jemand einen Raum betritt, und
die anderen Menschen können seine Anwesenheit fast körperlich spüren.
Zum Schluß des Interviews begann das Aufnahmegeräte verrückt
zu spielen. Ich versuche, den Rest anhand der verstandenen Gesprächsfetzen
zu rekonstruieren. Die frühen Wissenschaftler nannten das Magie,
heute streitet man das ab. Magie ist überall, z. B. bei angeregten Gesprächen.
Wir verstehen zwar nicht alles, aber das ist auch nicht notwendig. Das Leben
ist nicht kompliziert - (ironischer Tonfall) Beziehungen sind manchmal kompliziert.
Es gib so etwas wie ein „gemeinsames Bewußtsein“, man kann es spüren,
z. B. wenn man auf der Bühne steht.
Dieses Gefühl sollte jeder Mensch einmal im Leben gespürt haben.
Man verliert sein Bewußtsein und wird Teil eines großen Ganzen.
Mir passiert das manchmal bei Konzerten; ich bin zwar physisch anwesend, man
hört mich singen und spielen, aber ich bin eigentlich gar nicht mehr
da. Etwas im Saal passiert mit den Menschen, etwas verbindet sie - das ist
eine Art Magie.
Interview: Heiko und Martin
Übersetzung und Bearbeitung: Martin
Die Graphiken auf dieser Seite wurden von „Greg & Lotty‘s Homepage“
geklaut, einer wirklich schönen australischen Seite, die leider im Mai
2001 zugemacht hat. Seit Anfang 1999 haben New Model Army auch eine offizielle
Homepage, die recht informativ und basisnah ist, da man dort u. a. viele
links auf Fan-Seiten (z. B. zum „Unofficial NMA-Songbook“) finden kann.
Das 98er-Album „Strange Brotherhood“
wurde im NONONKONFORM #4 besprochen, es wurde nun auf diese Seiten gepackt.
Außerdem kann man lesen, wie's beim Konzert
am 14. März 2000 in Nürnberg zugegangen ist.
Ein interessantes Interview mit Justin Sullivan hat das Underground
Empire gemacht. Entstanden ist es nach Veröffentlichung des 2000er-Albums
„Eight“, und ich erwähne es hier deshalb, weil es auf den üblichen
link-Listen wohl nicht auftaucht. Auf der Hauptseite auf Interviews klicken
oder im Archiv nachschauen (Stand September 2000).
Hier
gibt's unser zweites Interview mit
Justin Sullivan
Sehr
zu empfehlen ist das "Annotated
New Model Army Song Archive", wo's viele
Songtexte mit Erläuterungen gibt