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NEW MODEL ARMY - Carnival (2005)

Falsche Herangehensweise: CD einlegen, Textblatt zur Hand nehmen und auf "Klassiker" warten. Denn das Klassiker-Album haben NMA schon vor 16 Jahren mit "Thunder And Consolation" gemacht.
Doch erstmal ein Blick zurück: Das letzte offizielle NMA-Album "Eight" liegt fünf Jahre zurück. Zwischendurch hat Justin Sullivan sein erstes Solo-Album "Navigating By The Stars" veröffentlicht und war mit NMA und seinem Akustik-Projekt "Justin Sullivan & Friends" - der Wohnzimmerausgabe von NMA - unterwegs. Letzteres kann man auf der "Tales Of The Road" von 2004 nachhören, wenn man die Tour verpasst hat. Dann waren NMA auch in den USA auf Tour, soweit ich mich erinnere, zum ersten Mal in der 25jährigen Bandgeschichte. Und Ende 2004 starb Rob Heaton, NMA-Gründungsmitglied und 16 Jahre zusammen mit Justin Sullivan treibende Kraft der Band.
Wie gesagt, von "Carnival" war ich beim ersten Hören eher enttäuscht. Schon das Cover gehört eher zu schlechteren, die Joolz entworfen hat, vor allem der Totenkopf wirkt etwas zu plaktiv, wobei das Skelett mit den Blümchen auf "Eight" noch irgendwie witzig, wenn nicht gar romantisch ("Will you still love me when all of this is gone") war. Das Auge taucht jedoch schon auf "Strange Brotherhood" auf. Nebenbei: Meine Cover-Favoriten sind das von den "Radio Sessions '83-'84" und das der "Green and Grey"-Maxi.
Gut, die CD blieb ein paar Tage liegen, dann legte ich sie nochmal ein, u. a. zur Aquariumspflege. Bestimmte Themen ziehen sich wie ein roter Faden durch das "Spätwerk" (ab ca. 1993), ohne daß sich die Band auf eine politische Linie festlegen ließ: Krieg und Ungerechtigkeit in der sogenannten "Dritten Welt" sind Inhalt von "Red Earth". Dieses steigert sich dann von einer beschaulichen Erzählung zu einem "Here Comes The War"-würdigen Wutausbruch, welches auch thematisch Pendant ist. Und immer wieder Bradford, die Heimatstadt von New Model Army, mit der die Band durch eine Art Hassliebe verbunden ist. Der Eröffnungstrack "Water" scheint noch zur Zeit von "Navigating By The Stars" entstanden zu sein, das viele Songs über's Meer und den Ozean enthielt. Zudem hat der Song ein im weitesten Sinne religiöses Moment, welches bei Justin Sullivan gerne mit der Natur in Verbindung gebracht wird. So auch bei "Too Close To The Sun", das in einem Atemzug mit "White Light" (von "The Love Of Hopeless Causes") und "Wonderful Way To Go" ("Strange Brotherhood") genannt werden muss.
"Carnival" (die genaue Bedeutung des Titels hat sich mir noch nicht erschlossen) ist vielleicht mehr als alle anderen NMA-Alben ein "Erzähl-Album"; die Stimme von Justin Sullivan, der auch alle Texte geschrieben hat, steht stark im Vordergrund und die Struktur der Texte ist, wenn man bewußt hinhört, manchmal hip-hop-beeinflußt (das merkt man auch ohne den Hinweis im Presse-Info). Doch keine Angst, NMA machen keinen an den Haaren herbei gezogenen Crossover.
Ich habe gerade mal im Lexikon nachgeschlagen: Justin Sullivan wird nächstes Jahr 50, unglaublich. Und er kann Songs wie "51st State", "Better Than Them" oder die ritualisierten Konzertbeender "225" und "Vengeance" (mit der einleitenden Ansage: "There is one thing I try to learn in every language: 'Der einzige gute Faschist ist ein toter Faschist!'") genauso überzeugend rüberbringen, wie die neuen Songs. Keine Frage, die Konzerte der "Carnival"-Tour werden auch live jeden Euro wert sein.
Es gibt eine Textstelle in "Fireworks Night", die den Geist der "alten" New Model Army beschreibt, dem die Band immer treu geblieben ist: "... the way we used to be, when we sang of passion and justice; and faith was easy and celebrated in a ritual of swirling smoke, arms all raised up towards the lights... And we said what we said but we made what we made".
Was mich zum NMA-Fan gemacht hat, sind die musikalischen Punk-Wurzeln (nach denen man heute zwar etwas tiefer graben muß) und der textlichen Mischung aus Rebellion und der Beschwörung eines Begriffs, der heute manchem altmodisch vorkommen mag, nämlich "Werten". Dafür wurden NMA schon in den 80er-Jahren in der englischen Presse als "verbissene Puritaner aus dem Norden" gegeiselt und wegen ihrer radikalen Anti-Drogen-Haltung nicht (!) in der BBC gespielt. "The Hunt" spielen NMA auch heute noch live. Mehr dazu beim "Familiy"-Link weiter unten.
Und weil wir gerade bei genialen Textstellen sind, bei dieser, aus "LS43", würde Kerouac, wenn er noch lebte, wohl leise lächeln (ich warte auf den Kommentar einer mir bekannten Kerouac-Kennerin ;-)):
"Neon weekends and madhouse nights and so much time to taste
We built monuments to the things we loved, then laid each one to waste
All in suicidal vengeance, screaming justice, justice now
As across the burning bridges we thundered"

New Model Army machen Musik für ihre Fans, mit ihren Alben und mit ihren unvergleichlichen Live-Konzerten. "Carnival" ist sicher kein Album, das neue Käuferschichten erschließen wird. Aber das hat die Band auch nicht mehr nötig. Die bedingungslosen Fans ("the Family") werden das Album eh' kaufen, Fans, die sich seit "Strange Brotherhood" dem Lager der Zweifler zugewandt haben, sollten trotzdem mal reinhören.

"Carnival" kommt am 5. September raus und wird von Rough Trade vertrieben.

- Martin - 08/05