Wieder
mal eine schön aufgemachte CD, eine Doppel-CD sogar, von New Model Army.
Cover, wie gewohnt, von Joolz, und, wie schon das letzte Album "Eight",
in Orangetönen gehalten, Booklet mit allen Texten und liner notes; so
wünscht man sich das. Kein Vergleich zu Resteverwertungen wie der hier
schon besprochenen "All Of This -the
'Live' Rarities" oder der sträflich lieblos aufgemachten "History
- The Best Of New Model Army" (beides EMI). Noch schöner ist so
eine CD, wenn man sie (wenn auch nachträglich - diese Anmerkung mußte
sein ;-)) zum Geburtstag geschenkt bekommt.
Ursprünglich sollte diese Zusammenstellung "B-Sides And Abandoned
Tracks Part II" heißen, also die Fortsetzung der B-Seiten-Sammlung
von 1994. Geändert wurde der Titel vielleicht deshalb, weil sich auf
dem vorliegenden Album tatsächlich viele "lost songs" befinden,
d. h. Songs, die bisher, wenn überhaupt, nur live zu hören waren.
Auf CD1 sind hauptsächlich Songs, die während der dreijährigen
Aufnahmezeit für "Strange Brotherhood"
('98) entstanden sind. Derer waren es nicht wenige, und sie wurden damals
auf, teils limitierten, Maxis veröffentlicht. Auch die Tracks der Bonus-CD
der Erstauflage von "Strange Brotherhood" werden hier nun einer
größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Der Track "Song To The Men Of England", der zuerst auf einer Compilation
mit dem Titel "The Disagreement Of the People" erschienen war, und
den Stefan und ich schon seit einiger Zeit gesucht hatten, war dann aber ziemlich
enttäuschend. Glücklicherweise hatten wir unsere Sammelleidenschaft
dahin gehend gebremst. "Higher Wall" (Klassiker, noch aus den Aufnahesessions
zu "Thunder And Consulation" von '89) und "Far Better Thing"
(von "Impurity" - '90 - übriggeblieben), gab's bisher nur auf
oben erwähntem "Best Of"-Album (von Mitte der 90er, glaube ich),
und haben hier nun endlich einen würdigen Platz gefunden. Hatte vorher
schon was von Wühltisch...
Viele
der Songs wurden im Laufe der letzten Jahre als Demo aufgenommen und für
"Lost Songs" neu oder mit erweiterter Instrumentierung aufgenommen.
So der erste Song auf CD 2, "Freedom '91", welchen Justin nach einer
Reise durch die ehemaligen Ostblock-Staaten Anfang der 90er aufgenommen hatte.
Besonders gefreut habe ich mich über zwei mir völlig unbekannte,
gut 10 Jahre alte, typische NMA-Songs, "Falling" und "Knife".
Manche Kritiker bemängelten, daß "Lost Songs" zusammengeflickt
klinge, zu uneinheitlich. Was man von einem Album, das einen Zeitraum von
mehr als 10 Jahren abdeckt, auch nicht erwarten kann. Eigentlich. Mag sein,
daß die Songs nicht aus einem Guss sind, wie es bei einem regulären
Album idealerweise der Fall sein sollte, aber krasse Stilbrüche sind
nicht zu finden, was für die Beständigkeit von NMA spricht. Eine
Beständigkeit, die irgendwelche Zeitgeist-Heinze, als "altmodisch"
deklarieren mögen; sollen sie. Einen Großteil dessen, was heute
als angesagt gilt, wird in wenigen Jahren in den tragbaren Plastikboxen der
Second-Hand-Dealer billig verscherbelt werden, weil das Zeug keiner mehr zu
Hause stehen haben will.
NMA sind ein Band, mit der man alt werden kann, wenn auch
die Aussage von Justin Sullivan bei seinem Konzert in Nürnberg am 28.
April 2002, es seien nun bald drei Generationen von NMA-Fans im Saal, etwas
überzogen scheint, obwohl die Altersspanne von etwa 17 bis Mitte vierzig
ging.
Als ich die Karten gekauft hatte, war noch nicht bekannt, daß Herr Sullivan
auch in der "Mälzerei" in Regensburg, also fünf Radminuten
entfernt, spielen würde, interessanterweise mit David Clemmons von JUD
bzw. THE FULLBLISS, der jedoch im Programm gar nicht angekündigt
worden war. Ich tröstete mich damit, daß die Akustik im "Hirsch"
in Nürnberg eh' besser sein würde, als in der relativ kleinen "Mälzerei",
was wahrscheinlich auch stimmte.
Es war diesmal kein reines Solo-Konzert, wie 1996
als ich Justin zum ersten Mal live gesehen hatte, den er hatte Dean White
(Gitarre und Keyboards) und Micheal Dean (Percussionsinstrumente) von NMA
mitgebracht. Zu Beginn des Konzerts wurden die Besucher gebeten, ihre Handys
auszuschalten und in die Kneipe nebenan zu gehen, wenn sie sich unterhalten
wollten. Auf der NMA-Homepage wurden die Solo-Konzerte als "for a seated
audience" angekündigt, was wohl eher so gemeint war, daß man
nicht gerade zum Headbangen kommen sollte, denn gerade mal die ersten fünf
Meter vor der Bühne waren mit ein paar Biertischen und -bänken "bestuhlt".
Dann wurde eine Kerzenständer auf der Bühne angezündet, und
es ging los.
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, welche Songs gespielt wurden, ist
eigentlich auch egal. Zwei mir unbekannte Stücke waren dabei, die im
Herbst auf Justins Solo-Album, seinem ersten, vertreten sein sollen. Die Atmosphäre
war sehr familiär, und Justin erzählte zu vielen Stücken kleinere
Geschichten, so z. B. zu "Lurhstaap", welches kurz nach der deutschen
Wiedervereinigung geschrieben wurde, wobei er betonte, als Engländer
den Deutschen nicht vorschreiben zu wollen, wie sie dieses Ereignis bewerten
sollten. Zu der schleimigen Botschaft von "Winds Of Change" von
den Scorpions hat er auf jeden Fall eine klare Meinung ("I hate this
song!") und ließ diese Einstellung auch schon vor zwölf
Jahren in "Lurhstaap" anklingen ("All is gone, all is gone,
but this changing winds can turn cold and hostile").
Ich hab' später rausgefunden, daß die Geschichten, die Justin auf
seinen Konzerten bringt, an jedem Ort ähnlich sind, aber gut, seine Songs
arrangiert er ja auch nicht jedes Mal neu um. Wer eine genauere Beschreibung
lesen möchte, sollte mal wieder bei Anjas
Bat Cave vorbeilesen, sie hat dort nämlich ein Konzert beschrieben,
daß nur wenige Tage vorher stattfand.
Trotzemd
witzig war die Story mit Tom Jones. NMA hatten vor einigen Jahren mit ihm
zusammen "Gimme Shelter" von den Rolling Stones zugunsten einer
Hilfsorganisation für Obdachlose gecovert und auch als Single herausgebracht
(ich hatte tatsächlich eine Zeit lang geglaubt, "Gimme Shelter"
sei im Original von den Sisters Of Mercy, weil ich den Song bewußt erst
richtig auf einem ihrer Bootlegs gehört hatte... ). Justin meinte, daß
Tom Jones ("I thought that I have a loud voice...")
versprochen hatte, nur für diesen Song vorbeizuschauen, aber er sei noch
vom Flughafen Stuttgart mit dem Auto unterwegs. Daß Nürnberg auch
einen Flughafen habe, wie ihn ein Zuschauer sofort aufklärte, habe er
nicht gewußt... Mag sein, daß Tom Jones irgendwann nachts um zwei
vor verschlossener Tür stand, der Song war auf jeden Fall sehr gut; ich
hatte zuvor noch nie einen "klassischen" Rock-Song von NMA gehört.
Viele Songs klangen semiakustisch oft noch besser, als im Rockband-Format
- ja da waren drei Männer auf der Bühne, denen ihr Tun sichtlich
Spaß machte, vor allem Michael Dean, dessen lange Haare im Laufe des
Konzert immer nässer wurden.
Bei und nach solchen Konzerten, in den Momenten, wo für kurze Zeit einfach
alles stimmt, denk ich mir oft, daß es an der Zeit wäre, mein Leben,
wenn schon nicht komplett zu ändern, dann wenigstens in eine andere Richtung
zu bewegen. Wie es eben in "Aimless Desire" heißt: "Quit
the job that very day, and flew into the sky just following after this aimless
desire, worthless desire, the awful desire, the aimless desire".
Den folgenden Tag hatte ich mir frei genommen, denn allein der Gedanke, am
Morgen früh aufstehen zu müssen, wenn man erst um zwei ins Bett
gefallen ist, hätte mir das ganze Konzert vermiest. Und am Tag darauf
ging's natürlich weiter wie gehabt, na ja...
War auf jeden Fall wieder mal ein geniales Konzert, daß seine 16 EURO
und die 100 km Anfahrt ohne Zweifel wert war.
Abschließend noch eines: Mir ist aufgefallen, daß New Model Army in Punk-Magazinen, vor allem im OX (das ja eigentlich auch kein reines Punk/HC-Magazine mehr ist, weshalb ich es auch mehr oder weniger regelmäßig lese) mit ihren neuen Platten recht wohlwollend aufgenommen werden, obwohl die Phase, als Justin und seine Band noch annähernd als Punks durchgingen, schon bald zwanzig Jahre her ist. Für mich ein weiteres Zeichen von Kontinuität, die auch bei den Konzerten gepflegt wird, wenn wie selbstverständlich Songs aus den ersten beiden Alben gespielt werden, ohne sie modernisiert zu verhunzen.
- Martin - 07/02
Zum Interview
mit Justin Sullivan im April 2002