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"Die große Einsamkeit beginnt, die Tage werden taub,
aus deinen Sinnen nimmt der Wind die Welt wie welkes Laub."

(Rainer Maria Rilke)

[01] ORCHID - Capricorn (2011)

Es gibt Zeitgenossen, die regelrecht Pickel bekommen, sobald sie eine der Retro-Rockbands erblicken, die in den letzen Jahren wie halluzinogene Pilze aus dem Boden geschossen sind. Obwohl, heißt das nicht mittlerweile "Vintage"? Wie dem auch sei: ORCHID geben sich nicht mal für fünf Cent Mühe, ihre musikalischen und modischen Einflüsse in irgendeiner Weise zu verbergen. Die Haschwolken der Siebziger dampfen hier aus jedem Knopfloch und auch die Optik stimmt - denn selbstredend trägt der Mann von Welt wallendes Haar und Schlaghosen. Da fehlen wirklich nur noch die Sticker mit den Pril-Blumen auf dem Verstärker ...

Auch labeltechnisch waren ORCHID zu Zeit ihres Longplay-Debuts schon bestens präpariert: Das vorliegende Album erschien auf dem niedersächsischen Label "The Church Within Records" (geschmackssicher benannt nach dem 1994 erschienenen THE OBSESSED-Klassiker). Aber wie sah es mit der Musik aus? Konnte die Band nach zwei vorangegangenen EPs die Vorschusslorbeeren erfüllen? Damals wie heute ist zumindest Originalität auf "Capricorn" eindeutig Mangelware: Die bis in Details reichende Black-Sabbath-Verehrung geht mitunter so weit, dass man stellenweise schon von einer Kopie statt einer Hommage sprechen möchte.

Der Qualität der Musik hat das aber keineswegs geschadet, denn zumindest verfügen ORCHID trotz aller Nähe zum großen Vorbild über das Talent, eben auch Songs schreiben zu können statt nur Riff-Ansammlungen. "Black Funeral" z.B. ist mit effektiven Tempowechseln durchsetzt, "Masters of it all" und "Down into the earth" sind kleine Highlights geworden und selbst wenn bei dem Siebenminüter "Electric Father" immer wieder "Who are you" von Sabbath durchschimmert, ist er doch der Höhepunkt des gesamten Albums.

Soundtechnisch verkörpern ORCHID die eher rockige Seite des Doom - was auf ihrem zweiten Longplayer "The Mouths of Madness" (2013) noch etwas deutlicher zum Tragen kam. Da war die Band schon zu Nuclear Blast Records gewechselt, die zumindest gefühlt mittlerweile jede zweite Metalband des Planeten unter Vertrag haben oder zumindest mal hatten. Dort erschien auch "Capricorn" noch einmal, allerdings unter dem eher irreführenden Titel "The Zodiac Sessions" - was nichts anderes meinte als eben das erste komplette Album und die frühere EP "Through the Devil's Doorway" in remasterter Form und mit neuem Cover-Artwork.

ORCHID auf bandcamp.com

- Stefan - 10/2015

 

[02] THE WALKABOUTS - Devil's Road (1996)

Jetzt auch im Hauptprogramm: In der ersten Herbstmusik-Reihe 2011 kam ein Soloalbum von Sängerin und Gitarristin Carla Torgerson zu Review-Ehren, diesmal ist es eine Scheibe der WALKABOUTS selbst. In den drei Jahrzehnten ihres Bestehens hatte die Band zwar nie den wirklich ganz großen Status erreicht, aber mit dem Majorlabel-Deal Mitte der Neunziger und auch in den übrigen Zeiten ihrer Laufbahn waren die WALKABOUTS durchaus eine Hausnummer im Indie-Sektor, die Beachtung fand - bis heute und das mit Recht.

Musikalisch treffen die WALKABOUTS nahezu perfekt in den Herbst. Mit ihrem überwiegend getragenen, melancholischen Sound sind sie ein angenehmer Begleiter für diese Jahreszeit, ohne dabei gleich in eine Dauerdepression zu verfallen. Mit "Devil's Road" von 1996 wanderte die Band zu einem Major - nicht selten ein Grund für das altgediente Fanlager, aus den Backsteinen des eingestürzten Weltbilds eine Klagemauer zu errichten ("Jetzt werden sie kommerziell!") und das Ende der guten alten Zeit zu beweinen.

Kommerziellen Erfolg hatten die WALKABOUTS nun durchaus und ja, das Album klang auch etwas "größer" produziert. Diese Umstände dürften allerdings den Möglichkeiten eines größeren Plattendeals geschuldet sein und nicht das Ergebnis einer Strategie, dem schnöden Mammon alles unterzuordnen. Mag der Opener "The Light will stay on" trotz seiner Qualitäten vielleicht ein wenig glatt tönen und auf Nummer sicher komponiert - ein mehr als bemerkenswerter Song (und eine Erfolgsnummer für die Band) war es trotzdem.

Bereits beim dritten Track, dem energischen "The stopping-off place" hat die Scheibe schon gewonnen, gefolgt vom Gänsehaut-Garanten "Cold eye". Ziemlich großer Sport ist auch das von Chris Eckman getragene "Blue head flame", wobei das komplette Album davon profitiert, die typischen WALKABOUTS-Trademarks mit einer erfrischenden Abwechslung aufbereitet zu hören. Langsame und melodiöse Hymnen treffen auf Stücke, in denen das Tempo auch mal etwas angezogen wird - eine über weite Strecken gelungene Mischung.

Nicht alles von WALKABOUTS zündet gleich auf Anhieb oder hat die Zeit als wirklich relevant und bleibend überdauert, aber der Band sind immer wieder wunderbar melancholische und elegische Songs gelungen, die sich dabei wohltuend von süßlichem Kitsch abheben konnten. Nicht die einfachste aller Übungen, die aber unter anderem auf "Devil's Road" überzeugend absolviert wurde. Im vergangenen Jahr ist eine Neuauflage mit einigen Demoversionen und einem Livetrack als Bonus erschienen. Kann man als Fan haben, aber auch die alte Auflage erfüllt beispielsweise für einen Einstieg in den Band-Katalog bestens ihren Zweck.

Zum Reinhören und Bestellen

- Stefan - 10/2015


[03] WITCHCRAFT - Legend (2012)

Es geht auf Ende Oktober zu und noch zeigt der Herbst seine malerischen Seiten: kein nasskaltes Pisswetter, keine trübe Nebelsuppe. Da lassen wir auch musikalisch nichts anbrennen und versinken (noch) nicht in der düsteren Herbstdepression - die harten Gitarren müssen noch mal ran. Wie bei den US-Kollegen von ORCHID war auch bei den Schweden WITCHCRAFT der Retro-Sound allgegenwärtig, man höre zum Beispiel den Vorgänger "The Alchemist". Da atmeten vor allem die bewusst eher dünn (aka "authentisch") produzierten Gitarren noch den Geist der Siebziger, aber nach längerer Pause und Besetzungswechseln kam 2012 dann vieles anders ...

Kraftvoll, raumfüllend und fett wie ein Sahnejoghurt präsentiert sich die Sechssaiter-Fraktion auf "Legend", was manchen Fan der früheren Alben ratlos zurückließ. Hatten sich WITCHCRAFT etwa dem Kommerz ergeben, sich einen 08/15-Sound überstülpen lassen, alles der Moderne geopfert? Nein, das ist bei näherer Betrachtung keineswegs der Fall. Für Feinheiten und ruhigere Töne ist hier immer noch genügend Platz, da wird nichts mit purer Metal-Kraftmeierei ohne Rücksicht auf Verluste zubetoniert. Wenn's denn aber ans Eingemachte geht, dann zimmern die Gitarren ein grundsolides Riff-Fundament zusammen, mit dem die Band auch außerhalb der Doom/Retrogemeinde selbstbewusst zu jedem Auswärtsspiel fahren kann.

Das große Plus von "Legend" ist die Tatsache, dass WITCHCRAFT nicht nur verdammt gute Riffs, sondern auch Songs schreiben können - ein Umstand, der bei manchen Kapellen des schier unübersichtlich gewordenen Doom-Kosmos ja nicht immer gegeben ist. Gekrönt vom ausdrucksstarken Gesang macht das Album von Beginn an klar, dass hier nicht auf Sicht geflogen wird, sondern eine strukturierte Kompositionsleistung am Werk war. Einmal mit flotteren Passagen wie im Opener "Deconstruction", dann wieder melodiös und mit sich stetig steigernder Leidenschaft wie in "An Alternative to Freedom". Und da ist noch keine halbe Stunde vergangen ...

Satte Riffs aus der Doom-Premiumklasse wissen auch in "White Light Suicide" und im ruhig beginnenden "Dystopia" zu begeistern und werfen zugleich die Frage auf, warum solche Songs nicht auf dem von der Presse hochgelobten letzten Longplayer von Black Sabbath zu hören waren (im Rückblick wahrlich kein Knaller vor dem Herrn, auch wenn das Mediengetöse vermuten ließ, die Scheibe wäre so etwas wie ein Meisterwerk gewesen). Rausschmeißer auf "Legend" ist ein angenehm kurzweilig inszenierter Zwölfminüter mit gekonnt eingebauten Bass-Passagen, die immer wieder in krachende Gitarrenausbrüche münden.

Ein würdiger Abschluss einer Scheibe mit beachtlichem Langzeitwert, die der Band natürlich im Vergleich zu den Vorgängern ein neues Gesicht gab - aber warum denn nicht? Und vielleicht schließen ja auch die enttäuschten Altfans ihren Frieden mit "Legend", selbst wenn die Gitarren "zu produziert" klingen und die Scheibe auf Nuclear Blast rauskam. Gegen gute Songs kann doch eigentlich niemand etwas einzuwenden haben ...

- Stefan - 10/2015


[04] AUSTRALASIA - Notturno (2015)

Eine mondbeschienene Lichtung im Nebel, das Rauschen des Windes in den Bäumen, Motten, die von einer im Wind schaukelnden Laterne angezogen werden - nach dem Intro zitiert eine Kinderstimme aus Poes "A Dream Within A Dream" und dann beginnt "Notturno" - "Nachtmusik", das zweite Album von AUSTRALASIA, dem Ein-Mann-Projekt des italienischen Multi-Instrumentalisten Gian Spalluto, an dem er ein Jahr schrieb, aufnahm und abmischte.
Man denkt an Kenn Nardi, Mastermind von ANACRUSIS, der Anfang 2015 sein im Alleingang tongesetztes Album "Dancing With The Past" veröffentlichte oder an den menschenscheuen Quorthon, der seine Alben mit BATHORY ebenfalls allein eingespielt haben soll (zumindest nannte er seine Mitmusiker nicht...).

Musikalisch sozialisiert mit Ennio Morricone beim Playmobil-Spielen und extremen Metal-Geprügel beim Ausdrücken des letzten Pickels, fand Herr Spalluto seine Bestimmung bei Shoegaze und Postrock und dem abendlichen Genuss der Blade-Runner-Blu-ray mit dem Soundtrack von VANGELIS.

Die neun Instrumental-Stücke auf "Notturno" sind maximal sechs Minuten lang, kommen also recht schnell auf den Punkt und erinnern mich bei ihren Metal-Anteilen an "Mandylion" von THE GATHERING. Freunde von 65DAYSOFSTATIC oder der unvergleichlichen GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR sollten an diesem Nachtspaziergang ihre Freude haben.
Das poe'sche Tonzitat stammt übrigens aus "Picnic at Hanging Rock", einem meiner Lieblingsfilme und nichts für Panflötenhasser. Die beiden anderen Dialogschnippsel hat Gian einer alten schwarz-weiß Verfilmung von "The Hound of the Baskervilles" und der Episode "Memories" aus "Twilight Zone" entnommen.

Mit AUSTRALASIA stelle ich zum ersten Mal ein Album aus dem Underground in der "Herbstmusik" vor; Gian hatte uns das komplette Album zum Download angeboten, und im Gegensatz zu den restlichen 99% dessen, was so in den Posteingang flattert, wanderte seine Mail in den "Mal anhören"-Ordner und nicht in den Papierkorb und das Album ins virtuelle Regal auf der Festplatte. "Bißchen mehr dynamic range im Mastering und wilde Gelöstheit in den Arrangements, dann könnte hier mal was so richtig aufregend Postrockiges aus Italien kommen", meinte Heiko dazu. Aus dem Mund des kritischsten Ohrs des zine with no name (das verunglückte Wortspiel bleibt drin) mag das was heißen.
Für viele Werke der "Herbstmusik" gilt: punktuelles Reinhören kann der Musik nicht gerecht werden, auch "Notturno" sollte man ein paar Mal am Stück durchlaufen lassen; nach dem Wechsel auf Winterzeit bleibt dafür nun wieder mehr Muße.

Homepage

"Notturno" bei bandcamp.com

- Martin - 10/2015



[05] GOD IS AN ASTRONAUT - All is violent, all is bright (2005)

Wir bleiben im Post-Rock, weil es sich anknüpfend an Martins vorangegangenes Review anbietet, und weil es auch musikalisch sehr gut in die Jahreszeit passt. GOD IS AN ASTRONAUT stammen aus Irland und sind seit über zehn Jahren aktiv, wobei "All is violent, all is bright" von 2005 ihr zweiter Longplayer nach dem 2002er Debut war. Das Quartett ist instrumental unterwegs und beackert ein Genre, das wie so viele andere nicht gerade mit einem Mangel an Veröffentlichungen geschlagen ist. Lohnt sich das Antesten trotzdem?

Durchaus, denn im Rahmen ihrer stilistischen Bandbreite sind GIAA in der Lage, das Interesse des Hörers auf ihre Seite zu ziehen. Sie mögen nicht die besten Songschreiber unter der Sonne sein, verstehen es aber, in ihren Stücken Atmosphäre aufzubauen. "Forever lost" ist ein gutes Beispiel dafür: Es ist weniger die grundlegende Komposition, die hier gefällt, sondern die melancholische Melodieführung, die den Track stimmungsvoll über die Ziellinie bringt, die bei allen Stücken bereits nach maximal sechs Minuten erreicht wird.

Das Highlight des Albums folgt gleich danach: Die Achtziger kehren in Gestalt einiger CURE-Reminiszenzen in "Fireflies and Empty Skies" wieder - einfach mal auf die Gitarrenmelodie im Hintergrund achten. Schön einfach und mit treibendem Bass/Drums-Fundament, zwischenzeitlich kurz innehaltend und dann wieder die Leitmelodie aufgreifend. Für meinen Geschmack das Stück auf "All is violent, all is bright", bei dem GIAA ihre Stärken am effektivsten gebündelt und in ein ebenso stimmiges Arrangement verpackt haben. Sehr gelungen!

In regelmäßig eingestreuten Passagen lässt die Band auch einige Ausbrüche aus dem insgesamt eher ruhigen und getragenen Sound zu, selbst wenn (da muss man den Kritikern teilweise zustimmen) der Songaufbau nicht immer der originellste ist: langsam und melodiös beginnend, in der zweiten Songhälfte dann kraftvoller und ausladender. Wobei man GIAA jedoch Unrecht täte, sie in erster Linie als Eigenkopisten zu sehen - Abwechslung ist durchaus keine unbekannte Größe auf diesem Album, trotz bisweilen vorsehbarem Songwriting.

Mit Blick auf die Gesamtleistung ist "All is violent, all is bright" kein Werk, das es dem Hörer besonders schwer macht. Keine ins schier Unendliche ausgedehnten Stücke, die keine Struktur finden und im Nichts versanden, keine hermetisch in sich abgeriegelten Experimente und auch kein Ultra-Prog-Overkill, sondern etwas, das man vielleicht als "Easy Listening" bezeichnen könnte. Damit werden GIAA zwar wohl nie in irgendwelchen "Das waren Jahrhundertalben"-Wertungslisten auftauchen, aber für die Dauer einer Albumstrecke haben sie genügend Bemerkenswertes zu bieten, das auch in einem gut bevölkerten Genre angenehm auffällt.

Zum Reinhören und Einkaufen

- Stefan - 11/2015


[06] NADJA - When I See the Sun Always Shines on TV (2009)

Ein leichter Anflug von Melodien, versteckt hinter einer alles zudröhnenden, verzerrten Soundwand: So in etwa verlief meine erste Begegnung mit diesem Drone/Ambient-Duo aus Kanada. Es mag seltsam klingen, wenn ausgerechnet jemand, der im letzten Jahr an dieser Stelle eine Totenmesse der Monotonie wie das GRIEF-Album hochleben ließ, von Eintönigkeit schreibt, aber so ganz zu überzeugen vermochte mich das Gehörte anfangs nicht. Aber das Interesse war geweckt und führte zu einem Album, das nur aus Coverversionen besteht.

Auf ihrer 2009er Scheibe "When I See the Sun Always Shines on TV" vereinen NADJA eine musikalische Bandbreite, die vom Achtziger-Pop bis zum düsteren Metal reicht. Und als hätten sie es seinerzeit schon vorausgeahnt, covern Aidan Baker (git/dr/voc) und Leah Buckareff (b/voc) auch CODEINE und ELLIOT SMITH, die in den Jahren 2012 und 2013 zu unseren Herbstmusik-Gästen zählten. Der Kreis schließt sich ...

Der Opener ist das, was man im Englischen eine "obvious choice" nennen würde: MY BLOODY VALENTINE zählen erklärtermaßen zu den wichtigen NADJA-Einflüssen. "Only Shallow" ist auch der erste Track auf dem 1991er Album "Loveless" von MBV, das heute unter Kritikern einen recht hohen Stellenwert einnimmt und sogar als wegweisender Indie-Klassiker gilt. In der Version von NADJA offenbart sich, auf welchen musikalischen Fundus Drone zurückgreift, auch wenn das nicht immer so offensichtlich zutage tritt wie hier.

Die Adaptionen von NADJA bewegen sich teilweise am Rande der Kenntlichkeit, wenn etwa im CODEINE-Track die ausladenden Fuzzgitarren-Teppiche in den Hintergrund treten und die Nähe zum Original deutlich wird. Aber auch der Effekt der Verfremdung setzt ein wie beim SWANS-Cover "No Cure for the Lonely": Hier ist die Vorlage weit weg, vielleicht sogar zu weit, denn auf fast sieben Minuten ausgedehnt verschwindet das Stück wie hinter einer Nebelwand und lässt sich kaum noch erkennen, was keinen Gewinn darstellt.

Mit dem SLAYER-Song "Dead Skin Mask", einer Meisterleistung an Atmosphäre, wagen sich NADJA an eine bedeutende Hausnummer, an der man auch grandios scheitern kann. Das Resultat ist ein zehnminütiger Trip, der nicht bei jedem auf Anhieb zünden wird, denn auch hier arbeitet das Duo mit einem häufig gebrauchten Stilmittel: Düster-sphärische, in den Hintergrund gemischte Gesangslinien, die von Gitarren in Zeitlupen-Distortion begleitet wie ein sich langsam, aber unerbittlich voranbewegender Lavastrom inszeniert werden.

Das funktioniert bei SLAYER sehr gut, bei einem Pop-Act wie A-HA dagegen ist der musikalische Sprung naturgemäß größer und das Ohr des Hörers muss schon etwas angestrengter auf die Suche gehen, um das Original zu entdecken. Strukturierter gestaltet sich "Needle in the Hay" von Elliott Smith, das prägende Elemente der Vorlage bestehen lässt und das totale Überfrachten vermeidet. Bei anderen Stücken auf dem Album ist diese Balance nicht ganz so gelungen, was bei einem eher ungewöhnlichen Experiment auch nicht weiter verwundert, denn NADJA bleiben ihrem Stil durchweg treu und das verträgt sich nicht mit jedem Ausgangsmaterial. Die gelungenen Momente sind jedoch hörenswert, das Antesten lohnt sich also.

NADJA auf bandcamp.com

- Stefan - 11/2015



[07] COLD SPECKS - A Predict A Graceful Expulsion (2012)

Beim Konzert von Cold Specks Ende Juli, in einer Pause dieses unverträglich heißen Sommers, hatte man den Eindruck, die etwa 50 Leute, die sich in der Halle des "Hirsch" in Nürnberg nicht gerade auf die Füsse traten, hatten etwas anderes erwartet. Vielleicht hatten sie das Haus nur verlassen, weil sie sonst nichts Besseres zu tun hatten und die alles und nichts bedeutende Ankündigung auf der Hirsch-Homepage gelesen, die eine "dunkle Stimme", die "warme Sommernächte verschönert" pries.

Das Licht im Saal geht aus, die Bühne wird hell, eine kleine Frau mit Kurzhaar-Afro und grauem Kleid und ihre Band treten heraus. Sie hängt sich die E-Gitarre um, stöpselt sie in den Verstärker, stimmt nochmal kurz nach und beginnt das Set alleine mit "The Mark", dem ersten Song ihres ersten Albums mit dem enigmatischen Titel "I Predict A Graceful Expulsion".

Die Sängerin nennt sich Al Spx und hat dieses Album 2012 mit 24 Jahren veröffentlicht. Sie ist Kanadierin mit somalischen Wurzeln, ihre Eltern würden ihre Musik nicht gutheißen, erklärte sie in einem Interview, darum der Künstlername. Ihr Gesang wurde von amerikanischen Soul-Sängerinnen und Folk-Sängern wie Will Oldham geformt, dessen "I See A Darkness" vom späten Johnny Cash gecovert wurde. Im Gospelchor einer baptistischen Gemeinde war sie nie Mitglied, hier täuscht der erste Eindruck, denn eine Kirche hat sie nie von innen gesehen, die Eltern sind Muslime.
Dieses Element der leichten Inkongruenz zieht sich durch das ganze Album und macht aus einen Wohlfühlalbum für warme Sommernächte ein Werk für Frühherbst. Noch ist es tagsüber warm, ein meditativer indian summer, doch die fallenden Blätter gemahnen "and to dust we will all return" ("Holland"). Ohne die knacksende Heizung würde es nachts ungemütlich in der Wohnung werden, und manchmal greift der Sturm nach den Fensterläden und rüttelt um Einlass. Draußen wäre man nun einsam, orientierungslos auf einer dunklen Ebene.

Quelle: Facebook-Seite von Cold SpecksHalb aus Spaß hatte Al Spx ihre Musik als doom-soul oder gothic gospel bezeichnet, was mich, nur am Rande mit Soul oder gar Gospel befasst, dann schon tiefer im Netz recherchieren ließ, nachdem ich, ich glaube es war "Holland" zufällig auf byte.fm gehört hatte.
Al Spx' Stimme ist eindeutig bluesig, nicht down-in-the-delta- oder cotton-field-bluesig, schon gar nicht eine "starke Stimme" im Stil einseitig begabter Nachwuchschanteusen in deutschen Casting Shows, sondern klar, manchmal rauh, unprätentiös, darum vielleicht umso ergreifender für Hörer, die sonst eher aus einer anderen musikalischen Ecke kommen. Diese nimmt sie vor allem live mit nur auf ihre Stimme und die von ihr gezupfte E-Gitarre beschränkten Songs gefangen, wie eben "The Mark", "Elephant Head" (mit der beschwörend wiederholten Liedzeile mit dem Albumtitel) oder "Blank Maps".

Auch ohne regelmäßig den Gottesdienst zu besucht zu haben, erkennt man die religiösen Anspielungen in den Texten. "I would say that a falling out with God is what it's about. I don't mind explaining that idea vaguely, but going into details is rather hard for me", erklärte die Künstlerin dazu. Der Kampf mit Gott sei nun jedoch abgeschlossen, “I don’t think I care enough to have an opinion about [religion] anymore. I struggled with it for a very long time".

"I Predict A Graceful Expulsion" wurde noch mit Studiomusikern eingespielt, mit einer Sängerin, die noch nicht ganz da war, wo sie hin wollte. In Nürnberg wurde fast das ganze Album gespielt, ebenso ein Großteil des 2014 erschienenen zweiten Albums "Neuroplasticity", welches noch mehr doom als soul ist, noch mehr gothic als gospel, rhythmischer und vielleicht auch den Hörer stärker fordernder. Es waren wohl vor allem die Songs dieses zweiten Albums, die das Publikum etwas ratlos im Raum stehen ließen.
Ich bin sehr gespannt, wohin der Weg noch führen wird.

Homepage

Cold Specks bei soundcloud

- Martin - 11/2015

[08] BAUHAUS - The Sky's gone out (1982)

Ein Album mit vertonten Stimmungsschwankungen, von treibend-energiegeladen bis düster und melodisch: BAUHAUS inszenierten sich 1982 auf "The Sky's gone out" mit einer großen Bandbreite und doch in sich geschlossen, als organische Einheit. Der Einstieg mit dem brillanten Brian-Eno-Cover "Third Uncle" (im Original aus dem Jahr 1974) legt ordentlich Tempo vor, bringt Bewegung in kühle Spätherbsttage - nur um postwendend abgelöst zu werden vom langsamen, sich schrittweise zum Midtempo steigernden "Silent Hedges".

BAUHAUS vereinen auf diesem Album auch verschiedene Ausprägungen dessen, was sich damals so alles im Bereich Post-Punk, Gothic Rock und anderen Stilrichtungen tummelte. Mal erkennt man die Verwandtschaft zu Bands wie JOY DIVISION, an der Gitarren- und Schlagzeugrhythmik von "Into the Night" dürften auch die Fans von SIOUXSIE AND THE BANSHEES aus jener Zeit Gefallen finden und "Swing the Heartache" könnte zumindest teilweise sogar aus dem Fundus der EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN stammen.

Doch keines der Stücke fällt dabei aus dem Rahmen, wirkt künstlich nur um der Vielfalt willen in seinen Kontext hineingezwungen. Es ist wohl die größte Leistung auf "The Sky's gone out", dass kein Song heraussticht und sich als Single-Auskopplung förmlich aufdrängt. Sehr getragen und wunderbar zum Übergang vom Herbst zum Winter passend präsentiert sich der Dreiteiler "The three Shadows", maßgeblich getragen von Peter Murphys markanter Stimme - gefolgt vom atmosphärisch ähnlichen "All we ever wanted was everything".

Doch wer geglaubt hatte, mit dieser über 13 Minuten langen Teilstrecke wäre die Scheibe verlässlich in den Hafen angenehmer Melodien eingelaufen, der irrt: "Exquisite Corpse" greift diese Stimmung zwar ebenfalls auf, ist aber unterschwellig unruhiger und vermeidet allzu beschauliche Heimeligkeit, um später sogar in einen Reggae (!) abzubiegen. Klingt skurril, ist aber im musikalischen Kosmos jener Jahre keinesfalls ungewöhnlich, schließlich hatte es seit den ausgehenden Siebzigern schon reichlich Berührungspunkte zwischen Punk, Rock und Reggae gegeben (siehe Clash, Slits, Police und noch eine ganze Reihe anderer Bands).

Kurzum: Wer BAUHAUS bislang nur mit "Bela Lugosi's dead" oder "She's in Parties" verbunden hatte, der hat definitiv etwas verpasst. Das vorliegende Album ist auch als Re-Relase mit vier Bonustracks erhältlich, darunter eine Coverversion des Bowie-Songs "Ziggy Stardust", während das alte Doppel-Vinyl mit einer Live-LP als Zugabe erschienen war (die es aber als "Press eject and give me the tape" auch einzeln gibt).

- Stefan - 12/2015


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