Zur Rubrik "Hören"
Kommentieren
Zur Hauptseite
Zur Hauptseite
Worum's geht...
Musikmacher
Bewegte Bilder
Lesen
Anderes


"Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben."

(Rainer Maria Rilke)

 

[01] THE OBSESSED - The Church Within (1994)

In einer zeitgenössischen Promo-Dokumentation zu unserem diesjährigen Einstiegsalbum meinte Henry Rollins einmal, dass THE OBSESSED die tatsächliche Jugendkultur Amerikas repräsentieren würden. Schau mal einer an, das habe ich damals gar nicht mitbekommen. Sicher erreichte seinerzeit der Grunge-Underground vor allem durch die Erfolge von Nirvana kommerziell ungeahnte Höhen und breitere Schichten der Jugend kamen auch mit dessen Einflüssen (Hardcore, Punk, Doom) in Berührung, aber ob nun THE OBSESSED trotz kurzzeitigem Majordeal wirklich in besonderem Maße prägend waren? Für Musiker und deren eigene Bands mag das zutreffen, sodass der OBSESSED-Sound zumindest dort unbestreitbar seine Spuren hinterließ.

Die Band, die wieder aktiv ist und dieses Jahr beim Roadburn-Festival gespielt hat, entstand schon Ende der Siebziger. Ihr wichtigstes Mitglied dürfte Scott "Wino" Weinrich sein, auch bei der Doom-Legende Saint Vitus eine markante Figur, und daneben bis heute mit einer Vielzahl anderer Projekte aktiv: Spirit Caravan, Place of Skulls oder The Hidden Hand - um nur einige Namen zu nennen. Sogar bei Paolo Catena (aka "Paul Cain"), Italiens Metal-Mysterium, findet sich sein Name wieder. Für so manchen Fan ist Wino gar der "Lemmy des Doom" und ein solcher Ehrentitel wird ja nicht einfach ohne Grund verliehen.

"No love stronger, no pain greater, no hate deeper" - so steht's in goldfarbenen Prägelettern auf der Rückseite der Limited Edition, ganz in völlig schwarzem CD-Case gehalten. Auch in der regulären Ausgabe ist das Album momentan leider vergriffen, bei Amazon aber noch zu nicht völlig überzogenen Preisen zu bekommen (20 Euro sind aber doch mindestens zu investieren). Die Scheibe beginnt mit dem Motto des Los Angeles Police Department, so zumindest heißt der erste Song: "To Protect and to Serve", eine der beiden Single-Auskopplungen aus dem Album, das neben seinem Release durch das deutsche Doom-Label Hellhound Records auch bei der US-Firma Columbia erschien. Man hätte allerdings die Uhr danach stellen können, dass letztere Verbindung nicht von sehr langer Dauer sein würde, schließlich waren THE OBSESSED trotz gewisser Erfolge und trotz ihrer beachtlichen Reputation unter Musikerkollegen immer eine dieser Bands, die eigentlich gar nicht zu einem erfolgreichen Massenphänomen werden können, wenn sie sich und ihrer Musik einigermaßen treu bleiben.

"The Church Within" präsentiert die Stärke der Band und auch ihre für Doom-Verhältnisse bemerkenswerte Vielseitigkeit perfekt: Der Sound ist mächtig, aber ohne aufdringliche Metal-Kraftmeierei, die Songs kommen auf den Punkt, auch wenn sie oft langsam und schleppend sind. Zwischendurch gibt's kleinere Ausbrüche, fast in Richtung Hardcore abdriftend wie in "A World apart", wenn das Gaspedal für einen Moment einmal so richtig durchgetreten wird und Wino inbrünstig "Fuck this world!" ins Mikro bellt. Irgendwie ist es dem Trio mit diesem Meisterstück geglückt, Fans verschiedenster Lager anzusprechen: Hardcore-Hörer z.B., die mit Klischee-Metal wenig anfangen können, ebenso wie Metal-Fans, die nicht durch allzu ausgedehnte, psychedelische Fiedel-und-Dröhn-Orgien verprellt werden. Dafür sind Wino und seine beiden Mitstreiter auch zu sehr Rock´n´Roller: Dem Nachdenklichen und der Melancholie steht immer auch eine ruppige Seite gegenüber, bereit zum Gegensteuern, damit der Hörer nicht von einem Meer aus Trübsal in Moll verschlungen wird.

Das Eindrucksvollste ist die Seele des Albums: Die Musiker mögen keine genialen Virtuosen gewesen sein oder es zumindest nicht zur Schau gestellt haben, ebenso hat auch Wino als Sänger seine Grenzen (ein Heldentenor wird aus ihm wohl nicht mehr werden). Aber all das ist vollkommen egal angesichts der Intensität der Musik, die in Songs wie "Touch of Everything" (bestes Stück der CD) ihren Ausdruck findet. Es ist sicher nicht zu hoch gegriffen, in diesem Longplayer einen Meilenstein des Doom Metal zu sehen - ewig schade drum, dass er bis dato nicht mehr neu aufgelegt wurde (wenn man von einer auf wenige hundert Exemplare limitierten Vinyl-Ausgabe beim Roadburn-Festival absieht). Eine CD-Wiederveröffentlichung, vielleicht mit einem Live-Mitschnitt aus jener Zeit als Bonus, sollte doch auch im Jahr 2012 noch genügend Käufer finden.

THE OBSESSED bei Myspace

- Stefan - 10/2012

 

[02] AUDREY HORNE - Audrey Horne (2010)

Nach meiner letztjährigen vornehmen Zurückhaltung im Rahmen dieser Reihe möchte ich heuer nun doch auch mein Scherflein dazu beitragen und habe mir hierfür das dritte, selbstbetitelte Album der norwegischen Band AUDREY HORNE ausgesucht.

Zunächst einmal fällt der doch etwas ungewöhnliche Name der Combo auf… irgendetwas macht da im Hinterkopf "Klick"! Und richtig: Bei "Audrey Horne" handelt es sich um einen Charakter aus der US- Mysteryserie "Twin Peaks" von David Lynch, und zwar um die kongenial von Sherilyn Fenn verkörperte geheimnisvolle Schönheit ebendieses Namens.
OK, etwas eigenwillig zwar, aber die Band entschied sich ganz bewußt für diese Namensgebung, um sich ein geheimnisvolles Image zuzulegen, und genau das dürften AUDREY HORNE damit wohl - vor allem bei den Kennern des Werkes des Kult-Regisseurs - auch erreicht haben!

Musikalisch sind die Norweger recht schwierig einzuordnen; ich würde einmal sagen, sie praktizieren grundsätzlich einen Spagat zwischen Alternative und Classic Rock sowie zwischen Progressive Metal à la Threshold und Neumetallischem der Sorte Furyon und Konsorten: Bisweilen brachiale Gitarrenriffs treffen da schon einmal auf sphärische Synthesizer- oder gar Mellotron-Sounds, so und so oft röhrt auch die gute alte Hammond rauh auf; wunderschöne Melodiebögen und Soli kollidieren mit schroffen, sperrigen Passagen, und der oftmals verfremdete Gesang, der über weite Strecken gepreßt bis gequält klingt, verleiht den meisten der Songs die entsprechende Portion Melancholie, die irgendwie perfekt zu den Texten, die sich im wesentlichen um das Verlassen, Verlassensein oder Verlassenwerden drehen, paßt.

Das Album vereint treibende Rocker wie "Charon" oder "Blaze of Ashes" mit eher schleppenden Songs wie "Circus", stellt luftig-federnde Stücke wie "Down like Suicide" neben teils düstere Epen wie "Pitch Black Mourning" und "Bridges & Anchors" oder Dezentes wie das abschließende "Godspeed"… Eine äußerst interessante wie auch stimmige Mischung, atmosphärisch ungeheuer dicht und beeindruckend umgesetzt!

Besonders intensiv tönen allerdings die beiden Power-Balladen "Sail away" und "Firehose", in denen AUDREY HORNE so ziemlich alle Register ziehen; besonders bei erstgenannter Nummer erinnern sie mich phasenweise doch gewaltig an meine Alltime-Faves Demon in ihren episch-erhabenen Momenten, was ihnen bei mir natürlich noch einige Extra-Bonuspunkte einbringt.
Und mir in diesem Falle eine meterdicke Gänsehaut!

Zu erwähnen wäre noch, daß die Erstauflage dieses Albums mit sechs unplugged eingespielten, nicht auf der regulären CD erhaltenen, Bonustracks erschien, die die Band noch einmal von einer vollkommen anderen, ebenfalls recht interessanten Seite präsentieren…

Fazit: Sollte man durchaus einmal gehört haben, paßt vortrefflich in die eher trübe Jahreszeit!

AUDREY HORNE bei Myspace

- Klaus - 10/2012

[03] LONG DISTANCE CALLING - Avoid the Light (2009)

"Vorzüglicher Instrumental-Rock von der derzeit besten Band aus deutschen Landen" schrieb ein gewisser Heiko K. in einem Online-Fanzine namens "ZWNN" (unbedingt mal vorbeischauen, lohnt sich!). Wobei sich auf dem 2009er Album traditionsgemäß (die machen das bei jeder Scheibe, sagt Wikipedia) auch ein Titel mit Gesang eingeschlichen hat - aber das wollen wir mal nicht so eng sehen. Im Gegensatz zu anderen Bands aus dem weiten Feld des Instrumental- bzw. Post-Rock ist bei LONG DISTANCE CALLING eine gewisse Metal-Schlagseite nicht zu leugnen, sie erklärt sich durch die Bands, bei denen die Mitglieder zuvor gespielt haben oder mit denen sie auf Tour unterwegs waren.

Immer blitzen verschiedene Reminiszenzen daran auf, kraftvolle Stoner-Riffs z.B. oder eine Gitarrenpassage wie im Opener "Apparitions" (kurz vor 9:30), die auch von einer Melodic-Death-Metal-Combo stammen könnte. Vielleicht ist es diese bodenständige Komponente, die bei LDC die Gefahr umgeht, sich bei langen Stücken (das kürzeste läuft 7:17 Minuten) in Orientierungslosigkeit zu verlieren, sondern immer nachvollziehbar strukturiert von Stimmung zu Stimmung wechselt, dem Langsam-Bedächtigen also einen handfest zupackenden Kontrast gegenüberstellt, durch den die ganze Sache erst so richtig interessant wird.

Ein sehr gutes Beispiel, wie spannend das funktionieren kann, ist "359°" (drittes Stück auf dem Album). Ohne Hektik wird planvoll vorbereitet, alles geht organisch ineinander über. Das ist in diesem Genre ja nicht immer der Fall, so mancher verirrt sich durchaus schon einmal im Labyrinth der Monotonie. Um darin bestehen zu können, muss man entweder z.B. durch völlige Radikalität überzeugen oder kompositorisch etwas auf dem Kasten haben - denn der Reiz der Wiederholung kann schnell verfliegen, wenn sich das fünfte Stück genauso langatmig anhört wie das zweite, noch kein Ende in Sicht ist und Struktur Mangelware bleibt.

Was LDC auf diesem Album präsentieren, eignet sich auch für Metal-Fans, die in den Instrumental-Bereich vorstoßen wollen und, durch ihre musikalische Sozialisation geprägt, das Rhythmische dem rein Fließenden bevorzugen. Die Band war entsprechend auch schon öfter mit Metalbands auf Tour, die Schnittmengen sind also offensichtlich vorhanden. Den obligatorischen Track mit Gesang hätte es dabei gar nicht gebraucht, er klingt im Vergleich zu den anderen Stücken am gewöhnlichsten (das klingt jetzt vielleicht etwas zu abwertend, mag sein). Der Rausschmeißer "Sundown Highway" bringt das Album noch einmal auf den Punkt, lässt es auch mal ziemlich flott angehen, bevor am Ende eine sanfte akustische Melodie langsam verklingt ...

Ein schöner Live-Mitschnitt, der die Stärken und die Bandbreite von LDC gut wiedergibt. Amüsant ist die Frage in den Kommentaren: "Why is the crowd just standing there?" Ganz einfach, Herr/Frau Unbekannt: Weil man bei bestimmten Konzerten vielleicht schlicht und ergreifend zuhören möchte anstatt z.B. das fettig-verschwitzte Haupthaar, falls (noch) vorhanden, abwechselnd Richtung Vorder- oder Hintermann zu schwingen. Manch einer will halt neben dem Klangereignis auch gerne sehenderweise mitbekommen, was sich auf der Bühne so tut. Und mal ehrlich: Zwei Stunden Dauer-Propellerheadbanging à la Tom Araya bei Reinhard Mey in der ersten Reihe mag sicher originell sein, sieht aber letztlich doch irgendwie unpassend aus, oder nicht?

"Avoid the Light" aktuell für schlappe 8,99 Euro gibt es HIER
Mehr Infos zur Band: http://www.longdistancecalling.de

- Stefan - 10/2012

 

[04] RED SPAROWES - Every Red Heart Shines Toward The Red Sun (2006)

Bleiben wir beim instrumentalen Post-Rock: Stellt man dieses Album der RED SPAROWES der letzte Woche hier präsentierten CD ihrer Kollegen von LONG DISTANCE CALLING gegenüber, hat sich in erster Linie die Metal-Komponente verflüchtigt. Die SPAROWES sind deshalb aber nicht der dünne Fencheltee unter den bisher hier vorgestellten Scheiben, sie wissen schon auch mal eine Spur härter aufzutreten. Sie legen ihre Stücke nur etwas raumgreifender an, hier ist vieles im Fluss begriffen. Das Eigenwillige an ihrem Album ist die Kombination von Passagen, die etwas eher "Kratzbürstiges" haben, mit schönen und sanften Melodien. Immer wieder mündet das dann entweder in aggressive Ausbrüche oder in einen großen, fast epischen Sound.

Track 4 "A Message of Avarice Rained Down" ist ein tolles Beispiel dafür: Das beste und zugänglichste Stück auf der CD: Ein langer Aufbau, alles in sich auch physisch (und nicht nur rein mechanisch nach einzelnen Bauteilen) plausibel, bis zum ausgedehnten, dahinschwebenden Schlussteil. Aber die RED SPAROWES können dabei nicht nur "schön" - es geht immer wieder auch etwas wilder und ungezügelter zur Sache. Dennoch hat man zu keiner Zeit das Gefühl, dass hier irgendwelche Stoner/Metal-Klischees plötzlich vor einem stehen könnten und der starke Max markiert werden muss. Die RED SPAROWES funktionieren wirklich aus ihrer Musik heraus, wobei eigentlich nur noch ein Schritt fehlt, nämlich die Aufteilung in einzelne Stücke aufzugeben und aus dem Album gleich einen einzigen großen Track zu machen. Der auf die einzelnen Songtitel verteilte Text über Chinas "großen Sprung nach vorn" legt diese Verbindung ja ohnehin nahe:

"(1) The Great Leap Forward Poured Down Upon Us One Day Like a Mighty Storm, Suddenly and Furiously Blinding Our Senses. (2) We Stood Transfixed in Blank Devotion as Our Leader Spoke to Us, Looking Down on Our Mute Faces with a Great, Raging, and Unseeing Eye. (3) Like the Howling Glory of the Darkest Winds, This Voice Was Thunderous and the Words Holy, Tangling Their Way Around Our Hearts and Clutching Our Innocent Awe. (4) A Message of Avarice Rained Down Upon Us and Carried Us Away into False Dreams of Endless Riches. (5) Annihilate the Sparrow, That Stealer of Seed, and Our Harvests Will Abound; We Will Watch Our Wealth Flood In. (6) And by Our Own Hand Did Every Last Bird Lie Silent in Their Puddles, the Air Barren of Song as the Clouds Drifted Away. For Killing Their Greatest Enemy, the Locusts Noisily Thanked Us and Turned Their Jaws Toward Our Crops, Swallowing Our Greed Whole. (7) Millions Starved and Became Skinnier and Skinnier, While Our Leaders Became Fatter and Fatter. (8) Finally, as That Blazing Sun Shone Down Upon Us, Did We Know That True Enemy Was the Voice of Blind Idolatry; and Only Then Did We Begin to Think for Ourselves."

Instrumental-Fans haben die Band natürlich schon längst auf ihrem Radar entdeckt, ein echter Geheimtip ist die aus dem Umfeld von Neurosis und Isis entstammende Formation nicht mehr. Wer Lust auf mehr bekommen hat, kann auf "bandcamp.com" (Link siehe unten) in das Album und in andere Veröffentlichungen der Band (die "Aphorisms"-EP z.B. tönt auch sehr interessant) ausführlich reinhören. Natürlich spricht der Sound der RED SPAROWES in erster Linie Freunde der langen Distanz an, für diese Art von Musik muss man sich doch etwas Zeit nehmen. Vom Formatradio konditionierte Hörer werden sich umstellen müssen und (im Idealfall) zum ursprünglichen Musikhören zurückfinden können: keiner redet dazwischen und niemand verkündet alle drei Minuten, welchen Sender man hört - stattdessen einfach nur: Musik. So soll es sein.

Info-Links:
http://redsparowes.bandcamp.com/album/every-red-heart-shines-toward-the-red-sun
http://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fer_Sprung_nach_vorn

- Stefan - 10/2012

 


[05] NEUROSIS - Given To The Rising (2007)
CROWBAR - Sever The Wicked Hand (2011)

Liebes Wetter: So geht das nicht. Du nimmst dir Freiheiten heraus, gegen die wir nicht viel unternehmen können, selbst wenn wir es wollten. Aber geschenkt - ist ja schließlich ein freies Land. Nur eine Sache musst du dir gefallen lassen: Du bist unkooperativ. Da haben wir uns zum zweiten Mal nach 2011 zu unserer Herbstmusik-Reihe versammelt und was passiert, Ende Oktober? Es schneit. Im Oktober? Gut, offiziell ist die Sommerzeit für dieses Jahr tatsächlich seit dem Wochenende Geschichte, doch thematisch ist das für uns trotzdem unpassend. Aber egal, dann fahren wir eben härteres Geschütz auf. Unter dem Motto "No Sleep 'til Wintereinbruch" lärmt diesmal ein Doppelpack mit massiv intonierter Düsternis. Gitarrenwände gegen Nachtfrost ...

"I would rather be a superb meteor, every atom of me in magnificent glow, than a sleepy and permanet planet. I shall not waste my days trying to prolong them. I shall use my time." Trotz dieses Jack-London-Zitats im Booklet ihres 2007er Albums haben NEUROSIS seit ihrer Bandgründung mittlerweile schon ziemlich viel Beständigkeit gezeigt, sind also kein nur kurz aufglühender und schnell wieder verlöschender Funke in der Musiklandschaft. Auch wenn ihr 1993er Album "Enemy of the Sun" den Untertitel unserer diesjährigen Herbst-Rubrik inspiriert hat, gehen wir nicht ganz so weit zurück, sondern verbleiben in der jüngeren Vergangenheit.

"Given to the Rising" arbeitet zwar mit verschiedenen Songs, aber im Prinzip ist die 71 Minuten lange Scheibe ein Werk, das am besten am Stück funktioniert, da einige Tracks für sich genommen ohne den Kontext vielleicht sogar ein wenig identitätslos wirken. NEUROSIS wird nachgesagt, mit dem Stilmittel des Laut-leise-Kontrasts in ihrem Gesamtschaffen recht häufig zu arbeiten, wobei da nicht selten auch der Vorwurf der Wiederholung und des Stillstands mitschwingt. Gebirgsformationen aus Gitarren treffen auf vor sich wabernde, mitunter dissonante Passagen, die teils Erholungspausen anbieten, teils eine bedrohliche Stimmung ausstrahlen, bis dann erneut die Gitarren-Lava ausbricht, unterlegt mit röhrend-aggressivem Gesang.

Die Gestaltung des Covers ist laut Wikipedia speziell durch den Heldenplatz in Budapest inspiriert. Martin brachte während einer unserer ZWNN-Konferenzen in Zusammenhang mit NEUROSIS Bezüge zur "Nazikunst" ins Spiel, also das martialisch-mythisch-totalitäre Element gewissermaßen. (NEUROSIS hatten auf einem ihrer früherern Alben mal Graphiken verwendet, die sie in einem Interview selbst als "völkisch"-inspiriert bezeichneten - Martin) Auch Anspielungen auf die Arbeit von LAIBACH dürften nicht zufällig sein, siehe dazu neben dem Frontmotiv das Tiergeweih unter dem CD-Tray: Eine Reminiszenz an Laibachs großartigen "Life is Life"-Clip oder das Cover ihres "Nova Akropola"-Albums? Ob NEUROSIS nun die großartige musikalische Apokalypse sind, die vertonte Endzeitstimmung, oder einfach "nur" eine sehr interessante Band - wer weiß? "Given to the Rising" ist auf jeden Fall eine gelungene und sehr gut produzierte Scheibe, kann man weiterempfehlen.

CROWBAR sind eine der relativ wenigen Metal-Bands, die ich tatsächlich mal live gesehen habe, als Support von Napalm Death seinerzeit. Mit viel Energie walzte sich die schwergewichtige Truppe durch ihr Programm, eine Mischung aus Hardcore und Doom Metal. Ich muss gestehen, dass ich die Band seither mehr oder weniger aus den Augen verloren hatte, aber mit dem im Februar 2011 erschienenen Album "Sever The Wicked Hand" hat sich das geändert - und womit? Mit Recht natürlich, denn das Ding ist ein echter Treffer!

Der Albumtitel steht laut Frontmann Kirk Windstein dafür, sich von schlechten Einflüssen loszusagen, auch wenn das oftmals schmerzhaft sein kann, und eine positiv geprägte Lebensperspektive zu verfolgen. Der Mann, der auch viel mit der Band DOWN unterwegs ist, spricht aus Erfahrung: Permanenter Konsum von Alkohol und Drogen hatte ihm ordentlich zugesetzt, bis er endlich an dem wegweisenden Punkt angelangt war, das im Kopf bereits erkannte Problem mit Namen Sucht auch wirklich loswerden zu wollen.

Man könnte nun vermuten, dass die Scheibe nur so strotzt vor Weltschmerz, Leid und Frustration, aber selbst wenn das natürlich zum Thema geworden ist, regiert hier nicht das Lamentieren, sondern das Licht am Ende des Tunnels: "I'm not alone - in times of sorrow" singt Windstein in "Let Me Mourn" und das ist gut so. Musikalisch bewegen sich CROWBAR zwischen melancholischem Doom Metal und purer Dampfwalze, die aber nicht in stumpfes Gebolze ausartet. Die Jungs sehen zwar so aus, als sollte man ihnen besser keine Delle ins Auto fahren, aber hinter der ruppigen Fassade, hinter dem massiven Sound und dem räudig in die Welt hinausgebellten Gesang steckt noch etwas anderes, etwas Verletzliches - was CROWBAR nicht zuletzt durch die Texte auch zulassen und sich nicht hinter oberflächlich hartem "Tough Guy"-Posing verstecken.

Das heißt freilich nicht, dass hier Wandersmann und Minnesänger dem geneigten Hörer eine blumige Melodei entgegenflöten, hier hat schon eindeutig der Schwermetall das Sagen. Sicher könnte man, wenn man denn ein Haar in der Suppe finden wollte, ins Feld führen, dass CROWBAR durchaus noch etwas mehr Abwechslung vertragen würden, aber dafür haben sie mit Intensität und Gefühl etwas zu bieten, was dieses Manko (falls man es als solches empfindet) vergessen macht. Nach Jahren, in denen nicht viel von der Band zu hören war, ist dieses kleine Comeback wirklich überzeugend ausgefallen. Die Verkäufe und die gut besuchten Gigs beweisen, dass die Fans das ähnlich sehen und die Band noch immer relevant ist - vielleicht mehr, als sie es bis dato überhaupt war. Der schön massiv in Szene gesetzte Sound (sehr kraftvoll, aber trotzdem auch filigran) ist das Sahnehäubchen auf einem Album, das nicht nur mich absolut positiv überrascht hat.

Hier kann das Geschäftliche erledigt werden
Hier geht's zum Video von "Cemetery Angels"

- Stefan - 10/2012

 


[06] ELLIOTT SMITH - Elliott Smith (1995)

Der kurzzeitige Wintereinbruch hat sich wieder verflüchtigt, doch so langsam werden die Bäume immer kahler. Wenden wir uns also nach brachialeren Tönen diesmal etwas ganz anderem zu... Low-fi-Kopfhörermusik...

Bei der Oscar-Verleihung 1998 für den "Besten Song"steht ein schmaler Mann im weißen Anzug und strubbeliger Nicht-Frisur auf der Bühne mit der bekannten Staffage aus Hollywood-Stars. Er ist für seinen Song "Miss Misery" aus dem Film "Good Will Hunting" von Gus van Sant, zu dem er noch ein paar weitere Lieder beisteuerte, nominiert. Den Ocar bekommt "My Heart Will Go On" aus dem Titanic-Soundtrack, was genauso irrelevant ist, wie die Veranstaltung als Ganzes. Der schmale Mann fühlt sich hier nicht wohl; später wird er das Ereignis mit den Worten kommentieren: "I wouldn't want to live in that world, but it was fun to walk around on the moon for a day".
Er heißt Elliott Smith und hat zu diesem Zeitpunkt bereits drei Solo-Alben veröffentlicht, von denen jenes mit dem Cover, das zwei Menschen zeigt, die entweder fliegen oder aber vom Dach eines Hauses springen, das zweite ist. Gus van Sant hatte ihn darauf angesprochen, ob er vier seiner Songs für den Film verwenden dürfe, "Miss Misery" hat er eigens dafür geschrieben, und jeder der "Good Will Hunting" kennt, verbindet damit die melancholischen, mit Akustik-Gitarre vorgetragenen Lieder von Elliott Smith.

Zu seinen frühen Einflüssen zählte Elliott Smith die Beatles und Bob Dylan aber auch Kiss und The Clash. Zwischen 1993 und 1996 veröffentlichte er mit seiner Band "Heatmiser" drei Alternative-Rock-Alben. Die ersten Solo-Alben, instrumental auf das Notwendigste reduziert, sind eher Dylan zuzuordnen, das Spätwerk spielt mit seinen Harmonien auf die Beatles an. Nick Drake mit dem er - bis hin zur finalen Konsequenz - verglichen wurde, war Elliott Smith ursprünglich gar nicht bekannt.

Die Melodien und die sanfte Stimme Elliott Smiths haben spätstens beim zweiten Durchlauf ihren Platz im Großhirn gefunden, doch irritieren leise Ausbrüche unterdrückten Zorns in den Texten eines Menschen, der eigentlich ungern von sich selbst spricht, aber gezwungen ist, sich seiner Umwelt mit Nachrichten aus seinem Innersten auf kleinen, vollgekritzelten Zetteln mitzuteilen. Als Hilferuf? Oder im sich selbst seine Existenz zu beweisen.

Lange Jahre seines Lebens hatte Elliott Smith mit Depressionen und Alkoholabhängigkeit, in seinen letzten Jahren auch mit harten Drogen, wie Heroin, zu kämpfen. Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken und Entzüge folgten. Im posthum erschienen Album "From A Basement On The Hill" verdichtet er dies in "A Passing Feeling" in den Textzeilen "Took a long time to stand/ Took an hour to fall".

Die Drogenbezüge in den Songs auf "Elliott Smith" sind machmal offensichtlich, manchmal sind die Drogen-Methaphern in Wortspielen versteckt, machmal werden sie vielleicht retrospektiv gedeutet. Durch das gesamte Werk von Elliott Smith zieht sich auch seine schwierige Kindheit und das Verhältnis zu seinem Stiefvater. Persönlicher, als mit dem eigenen Namen, kann man ein Album nicht benennen, und bei diesem Album trifft das tatsächlich auch mal zu. Doch darf man hier keinen weinerlichen oder aufdringlichen Seelenstriptease wittern. Trotz der buchstäblich intensiven Nähe - man hat den akustischen Eindruck mit dem Künstler in einem Raum zu sitzen - ziehen die Songs den Hörer nicht runter. Dazu wohnt den Songs trotz aller Melancholie eine frühherbstliche Unbeschwertheit inne. In einem Interview verriet Elliott Smith, daß sein Gitarrenspiel teilweise von seiner Vorliebe für Flamenco-Platten und der gleichzeitigen Unfähigkeit, die korrekten Flamenco-Zupfmuster zu spielen, herrühre.

Ein Versuch, sich das Leben zu nehmen, indem er von einer Klippe springt, schlägt 1998 fehl.
Am 21. Oktober 2003 stirbt Elliott Smith an den Folgen zweier Messerstiche in die Brust, die er sich nach einem Streit mit seiner Freundin selbst beigebracht haben soll. Die offizielle Todesursache lautet Suizid. Als er starb, war Elliott Smith clean.
Irgendwie hätte das alles auch in einen Gus-van-Sant-Film gepasst...

Sweet Adeline - die offizielle Elliott-Smith-Seite
Meist für ein paar Euros ist das Album gebraucht bei amazon zu haben

- Martin - 11/2012

[07] SIOUXSIE AND THE BANSHEES - Juju (1981)

Eigentlich war ja schon im letzten Jahr in unserer ersten Herbstmusik-Reihe etwas zu SIOUXSIE AND THE BANSHEES geplant, aber zu mehr als einem kleinen Auftritt im Startbanner oben auf der Seite reichte es dann doch nicht. Nicht zuletzt, weil die Entscheidung, welches Album wohl am geeignetsten wäre, erst noch getroffen werden musste. Das Debüt "The Scream" ist noch relativ punklastig, vom Nachfolger "Join Hands" blieb trotz Probehören nicht viel hängen. "Kaleidoscope" von 1980 hat gute Songs, aber nicht über die volle Distanz. Also konnte es eigentlich nur noch "Juju" aus dem Jahr 1981 werden.

Tante Wikipedia meint, die Scheibe sei ein "unbestreitbarer Archetyp" des Gothic Rock. Wobei das mit Genre-Definitionen wieder so eine Sache ist: Irgendwo zwischen The Cure in relativ früher Phase, Bauhaus, Christian Death bis hin zu The (Southern Death) Cult oder Sisters of Mercy (die waren manchem vielleicht schon wieder zu käsig). Keinesfalls vergessen werden dürfen natürlich auch Joy Division. Die musikwissenschaftlich Veranlagten würden an dieser Stelle noch auf den (nicht immer klar feststellbaren) Übergang vom Post-Punk zum Gothic Rock verweisen, aber mit trockener Theorie halten wir uns hier mal lieber nicht auf.

"Juju" fällt in die Zeit, als Gitarrist John McGeoch bei der Band spielte (er verstarb 2004). Im Rückblick gilt er vielen als der beste Gitarrist, den die Banshees jemals hatten, was sich besonders live auszahlte. Das Album ist stilistisch abwechslungsreich, wechselt die Stimmungen von treibendem Rock über die düstere, langsame Hymne bis zu eher hektischen Tracks, bei denen es etwas wilder zur Sache geht. Der Opener "Spellbound" ist ziemlich drum-lastig, wenn auch noch nicht so derart dominant wie z.B. bei "Hanging Garden" von The Cure. Neben dem hämmernden Rhythmus fällt hier schon das krönende Element auf, das die Banshees von anderen Bands doch sehr unterschied: Die markante, mit einem sehr hohen Wiedererkennungswert gesegnete Stimme einer jungen Dame namens Susan Janet Ballion, besser bekannt als Siouxsie Sioux.

Sie gibt auch Songs, die musikalisch schon mal etwas gewöhnungsbedürftiger klingen können, einen eigenen Charakter. Besonders wirkungsvoll wird es dann, wenn Drums und Bass (wie bei den frühen Cure ein wichtiges Instrument im Soundgefüge) für ein druckvolles Fundament sorgen wie in "Arabian Knights", auf dem sich dann Siouxsies einzigartige Stimme entsprechend entfalten kann. Ein mit dem Uptempo-Gaspedal spielender Klassiker ist "Halloween", bei dem McGeochs vor sich hin sägende Gitarre etwas leicht Manisches an sich hat. Reduziert in Sachen Geschwindigkeit ist der danach folgende Doppelpack, der das Herzstück der Scheibe darstellt und bei dem Siouxsie sich zur Hohepriesterin des Gothic Rock aufschwingt: "Monitor" mit einem ganz außergewöhnlichen, sich gegenseitig zu Höchstleistungen anstachelnden Wechselspiel zwischen Gitarren und Gesang, sowie das von Serienkiller Peter Sutcliffe inspirierte, düstere "Night Shift". Unfassbar grandios!

I'm out of my mind with you … In heaven and hell with you...

Was sich an diese elfeinhalb Minuten anschließt, fällt im direkten Vergleich etwas ab, was natürlich an der großen Konkurrenz der beiden vorangegangenen Songs liegt - dagegen zu bestehen ist nicht einfach. Sehr eigenwillig ist der finale Track "Voodoo Dolly", der sich zusehends in dissonante Raserei hineinsteigert. Obwohl, letzter Song ist nicht ganz richtig, denn in der remasterten Neuauflage hat die CD drei Bonusstücke erhalten: "Spellbound" und "Arabian Knights" in anderen Mix-Versionen sowie "Fireworks", das zwischen "Juju" und dem Nachfolger "A Kiss in the Dreamhouse" als Single veröffentlicht worden war. Kein Song der Extraklasse, passt hier aber als Verbindung zur nächsten Studio-LP musikalisch gut in die Landschaft. Für "Juju" gilt natürlich, trotz leichter Abzüge in der B-Note, andererseits aber auch mit unbestritten großen Klassikern, eine dringende Empfehlung, falls ein näheres Kennenlernen der Band anstehen sollte. Und der 1981er Rockpalast-Gig darf auch mal endlich auf DVD erscheinen, aber bitte noch in diesem Jahrzehnt, wenn es sich einrichten lässt.

Myspace-Seite mit Songs zum Reinhören
Und hier geht's zur Kasse ...

- Stefan - 11/2012

 

[08] JESU - Jesu (2004)

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie seinerzeit das GODFLESH-Debüt "Streetcleaner" im Metal Hammer und anderswo verrissen wurde. Im Rock Hard zitierte Herausgeber Stratmann seinen Chefredakteur Kühnemund bei einer Album-Besprechung mit den Worten: "Godflesh, das ist so, als wenn man sich in der nächstbesten Dorfdisco die Bierpulle vor den Schädel haut." Da spricht der geballte Sachverstand. Aber wir wollen nicht zu streng sein. GODFLESH waren für Fast-ausschließlich-Metal-Hörer damals relativ neuartig, aber das erklärt trotzdem nicht so ganz, warum manche in der Metal-Presse so lang brauchten, mit der Musik klarzukommen. Vielleicht war sie Ende der Achtziger für manche einfach noch zu früh am Start.

GODFLESH-Mastermind Justin Broadrick war und ist ein sehr aktiver Mensch. Die Zahl seiner musikalischen Projekte und entsprechend auch die der jeweiligen Veröffentlichungen ist ausgesprochen hoch. Gegen Ende der (mittlerweile wieder aktiven) GODFLESH experimentierte er mit Hip-Hop-Rhythmen, was in Verbindung mit seinem typischen Gitarrensound interessanter war als bei herkömmlichem Nu Metal. JESU ist eine weitere Musik-Insel im Broadrick-Kosmos, auch hier sind seit 2004 reichlich Tonträger erschienen.

Das selbstbetitelte erste Album schloss relativ eng an verschiedene Klangmotive an, die einem zuvor schon bei GODFLESH begegnet waren: wuchtige Gitarren, der eigenwillige Gesang, charakteristischer Bass-Sound, die Neigung zu langen Songs - hier schon sehr betont. Der kürzeste Track der CD ist immerhin sieben Minuten lang, ansonsten wird die 9-Minuten-Marke meist überschritten, bisweilen sogar zweistellig. Aber trotzdem ist da noch etwas Anderes: Eine gewisse Sanftheit, im Gesang ebenso wie in den Gitarrenmelodien, die sich durch die sehr langgezogenen Riffs bewegen. Wo GODFLESH nicht selten noch sehr "schmissig" waren, fand JESU nun die Muße, sich bei Geschwindigkeit und massiver Härte zurückzunehmen.

Das hat natürlich zur Folge, dass Geduld und Ausdauer gefragt sind. JESU sprechen Hörer an, die gerne mal in Musik versinken wollen (und können!). Je nach Stimmungslage des Konsumenten können JESU dadurch auch etwas weniger ansprechend sein, was dem emotionalen Charakter der Musik entspricht. Sich darauf einzulassen, ist Voraussetzung. Wobei Broadrick auch mit Erwartungshaltungen spielt: "Friends are evil" z.B. läutet mit knarzendem Bass und Gottfleisch-Riff eine Reminiszenz an alten Zeiten ein - denkt man. Aber nicht so ganz: Der sphärisch-sanfte Gesang und die sich wie ein roter Faden etablierende Hintergrund-Melodie stecken das neue Terrain ab, auf dem sich JESU musikalisch nun bewegen sollten.

Stilistisch klingt das deutlich melancholischer, getragener, sehr viel nachdenklicher. "We all faulter" ist einer dieser Momente, in denen die musikalische Reifung deutlich wirkt - "Sun Day" (schöner Anfang) ein anderer. Broadrick nimmt sich dabei alle Zeit der Welt, sodass der Begriff "langatmig" tatsächlich zutrifft, und entwirft eine Sound-Landschaft, als wären Popol Vuh und Doom Metal einander plötzlich ganz nah. Das vorletzte Stück "Man/Woman" kehrt am deutlichsten noch einmal (vorübergehend) zu alten GODFLESH-Zeiten zurück, während das Eröffnungsriff des Rausschmeißers "Guardian Angel" mich irgendwie immer an CARCASS erinnert. Aber das ist wahrscheinlich irgendetwas Britisches, das einfach in der Szene-DNA aus dieser Zeit (Justin Broadrick war auch mal in einem frühen Line-Up von NAPALM DEATH aktiv) verankert ist.

Ein großer JESU-Song ist auch "Silver", im Jahr 2006 als EP erschienen. Mit idealem Cover für eine Herbst-Rubrik (Baum im Nebel) und einem Titeltrack, der einfach nur schön ist. Der LP-Erstling klingt stellenweise noch ein wenig härter, was aber im Gesamtkontext der melancholischen und beruhigenden Musik nicht überbewertet werden muss. Ob man alles braucht, was von JESU oder unter Mitwirkung von Justin Broadrick je entstanden ist? Keine Ahnung, denn die Versuchung, auf diesem Gebiet als Sammler oder gar Komplettist aktiv zu werden, hat sich meiner bisher noch nicht bemächtigt. Der Griff zu ausgewählten, aber dafür wenigstens intensiv gehörten und nicht nur aus Gründen der Vollständigkeit gekauften Alben erscheint mir gewinnbringender.

Offizielle JESU-Seite im Netz
Das JESU-Debüt bei Amazon

- Stefan - 11/2012

[09] KINSKI - Airs above your Station (2003) / Alpine Static (2005)

Wie wird man auf diese Band aufmerksam? Beim Stöbern im Second-Hand-Laden war es natürlich der Name, der unweigerlich an Klaus Kinski denken lässt. Dann das Label Sub Pop, das ja doch einen gewissen Status besitzt (muss man an dieser Stelle - glaube ich - nicht nacherzählen). Erster Höreindruck: Irgendwas zwischen Stoner, rumpelndem Post Rock und einer Tendenz zu psychedelisch ausgedehntem Seventies-Sound. Es tönte auf jeden Fall nicht schlecht, hieß "Down below it's Chaos" und war das 2007 erschienene, bislang offensichtlich letzte KINSKI-Studioalbum. Wikipedia und Band-Homepage geben zumindest nicht mehr her, wobei auf letzterer allerdings eine neue Scheibe für das kommende Jahr angekündigt ist.

Da ich mich mal wieder nicht so ganz entscheiden kann, muss es an dieser Stelle erneut ein Doppelpack richten. "Airs above your Station", das erste Album auf Sub Pop nach einer Single und einer EP, beginnt mit langsam in den Gehörgang wabernden Klängen - melodisch, aber auch an Drone-Musik erinnernd. Langsam gesellt sich nach drei Minuten auch eine Gitarre hinzu. Erst kurz nach der Hälfte der zehn Minuten Laufzeit schlägt das Ganze um und wuchtige Riffs fließen dahin wie Lava. Mit Bass-Gegrummel und Drums klingt der Opener aus. Man kann nicht behaupten, dass KINSKI stets darauf aus wären, sofort den Rock'n'Roller im Hörer zum Leben erwecken, auch wenn er in ihnen immer wieder durchbricht ("Rhode Island Freakout").

Hier scheint es ihnen noch mehr daran gelegen zu haben, bei ihren Songs die längere Wegstrecke zu bedienen. Elfeinhalb Minuten lang ist der Track "Schedule for Using Pillows & Beanbags": Erst sanft, dann mit innigem Gitarrengeschrammel, dann einen Gang höher schaltend - nur der Schlussteil mit seinen Dissonanzen findet nicht so ganz ein Ende, das restlos überzeugend geraten wäre. Sehr herbstlich ist das sphärische "I Think I Blew It" geraten, bei dem man angenehm entspannen kann, um vor seinem geistigen Auge nebelverhangene Landschaften vorüberziehen zu lassen. Das Stück funktioniert auch prima mit dem folgenden Song, bei dem die Band erst in der zweiten Hälfte die Rock-Gitarren wieder etwas wilder einsetzt. Das Angenehme daran: Gesang oder gesprochene Parts gibt es auf dem Album nur selten, sondern fast nur Instrumentales.

Wer es etwas zupackender bevorzugt, sollte zu anderen KINSKI-Scheiben greifen, hier haben ausgedehntere, langsam schwebende Sounds noch mehr Raum als auf anderen CDs. Einen Kritikpunkt, der nicht von der Hand zu weisen ist, stellt der teilweise doch etwas gleichförmige Songaufbau dar: Zunächst längere dahinwabernde Parts, in der zweiten Hälfte kommen dann die Rocker zu Besuch. Das ist nicht immer wahnsinnig originell, und als hätten sie sich dessen besonnen, beginnt "Alpine Static", das Album von 2005, gleich mit drei flotten, sehr rockigen Stücken wie "The Wives of Artie Shaw" und "Hiding Drugs in the Temple (Part 2)". Für Herbstmusik mag das etwas zu flott klingen, aber wer sagt eigentlich, dass man in dieser Jahreszeit nur ultra-langsame Depri-Sounds hören darf, die einen dazu animieren, kopfüber in den Gartenhäcksler zu springen?

Immerhin sind auf diesem Album auch ganz getragene Tracks wie "All your kids have turned to static" oder "Waka Nusa" enthalten, zu denen sich als Kontrast einige brachialere Krachpassagen gesellen. Auf dem 2007er
Nachfolger "Down below it's Chaos" konnten sich KINSKI noch fokussierter auf einen Sound einigen, der etwas handfester ausfiel. Wer's daneben auch noch gerne psychedelischer und nicht immer fast durchgehend rocklastig mag, für den könnte vor allem "Airs above your Station" ein Antesten wert sein. Auf die neue Scheibe, die dann ja wohl 2013 doch endlich erscheinen wird, bin ich schon ziemlich gespannt!

Bandpage mit Hörproben
KINSKI bei MySpace

- Stefan - 11/2012


[10] KRISTIN HERSH - Learn To Sing Like A Star (2007)

Im Herbst 1986 hatten THROWING MUSES gerade ihr Debüt-Album veröffentlicht und für ein Konzert eine ebenfalls aus Boston stammende Band als Vorgruppe eingeladen, die sich THE PIXIES nannte. Ein Agent wurde auf die PIXIES aufmerksam, was zum Kontakt mit dem Label 4AD führte, bei dem auch schon die THROWING MUSES unter Vertrag standen. Gut ein Jahr später erscheint hier die "Come On Pilgrim"-EP - der Rest ist Geschichte. Die PIXIES werden zur Alternative-Rock-Legende und Erfindern des Grunge und lösen sich 1993 auf.
(Ganz getrennt haben sich die Wege der PIXIES und der MUSES aber nicht, bei BELLY traf man sich kurzzeitig wieder, oder hier bei einem denkwürdigem Konzert im Juli diesen Jahres...)

Die THROWING MUSES wurden 1983 von Kristin Hersh und ihrer Stiefschwester Tanya Donelly gegründet, schafften es aber nie richtig, vom Alternative-Boom der späten 80er und frühen 90er zu profitieren. Möglicherweise lag dies auch daran, wie Kristin Hersh ihre psychische Befindlichkeit intonierte, vor allem bei den frühen Veröffentlichungen. Den MUSES wurde vorgeworfen, sie würden nur rumschreien und könnten gar nicht spielen oder - die andere Sicht der Dinge - die Songstrukturen wären zu exaltiert und nicht nachvollziehbar.

Ab 1994 widmete sich Kristin Hersh mit dem Album "Hips And Makers" (ihrem vermutlich bekanntesten Solo-Album) ihrer Karriere abseits der MUSES, wobei die MUSES aber nie komplett von der Bildfläche verschwanden und vermutlichen zu jenen Bands gehören, die aus dem Hintergrund wichtige Impulse für die Alternative-Szene setzten. Kristins Solo-Alben sind der Singer-Songwriter-Ecke zuzuordnen, zum Ausgleich betreibt sie seit ein paar Jahren 50 FOOT WAVE, den Noise-Rock-Bruder der MUSES, dessen Rauheit mich beim ersten Hören mit offenem Mund dastehen ließ. Jedoch sind diese Differenzen in sich schlüssig, ich könnte mir einige der Songs auf "Learn To Sing Like A Star" auch mit deutlich verzerrteren Gitarren vorstellen, insbesondere den Opener "In Shock".
[Kleiner Exkurs: Einen solchen Vergleich kann man mit "Your Ghost", dem "Hit" aus "Hips And Makers" anstellen. Hier das Original, dort die etwas lautere Darbietung.]

"Learn to sing like a star" - diesen Rat hat Kristin Hersh glücklicherweise nie befolgt, was nicht heißt, daß sie sich nicht weiter entwickelt hat. Teenage angst würde man einer Frau in den 40ern natürlich nicht mehr abnehmen, und die mädchenhafte Hysterie mit Kieksen und Schreien hat sie schon lange abgelegt.
Die Stimme klingt manchmal sanft und doch rauchig, manchmal sehr rauh und beinahe brechend. So beziehen die Songs ihre Spannung schon alleine aus dem Gesang von Kristin Hersh, etwas was mir bei vielen Sängerinnen fehlt, da sie zwar objektiv "handwerklich" gut sind, aber letztlich auch nur ein bestimmtes Klischee bedienen. Man hört der Frau einfach gerne zu, auch wenn ein Song mal nicht so gelungen scheint, weshalb sich ihr mittlerweile über 25jähriges Schaffen fast komplett in meinem CD-Regal abbildet. Meine Begeisterung drückt sich dann in solchen Fällen in inkoheränten Texten, wie diesem, und dem verstärkten Setzen externer links aus ;-).
Von den bis dahin erschienen Solo-Alben von Kristin Hersh erscheint mir dieses am eingängisten, zudem ist es vergleichsweise opulent mit einer kompletten Band und Streichern eingespielt.

Foto: Ine DehandschutterKristin Hersh versucht, aktive Künstlerin zu sein und gleichzeitig (mittlerweile vierfache) Mutter und Ehefrau, was erstmal wenig spannend klingt. "Ehe und Mutterschaft sind viel mehr Rock 'n' Roll als der so genannte Rock' n' Roll-Lifestyle. Man muss nur eine Minute über die Rolling Stones nachdenken und sich fragen, wie cool die sind. Das ist altmodisch, dämlich, überholt und außerdem schlicht langweilig. Ehe dagegen ist gewalttätig, leidenschaftlich, verrückt und laut. Und erst Mutter sein: Man ist verantwortlich für menschliches Leben, die können sich jeden Moment wehtun, die Hormone sind am Rotieren. Das ist so aufregend, das ist viel mehr Rock 'n' Roll als mit Menschen ins Bett zu gehen, die einem egal sind. Im Rock 'n' Roll ging es darum, an die eigenen Grenzen zu gehen, und das tue ich als Mutter und Ehefrau", sagt sie in einem schon etwas älterem taz-Interview.
Ohne eine gewisse Erdung ist es sicher nur wenigen Künstlern möglich, das Musik-Geschäft lange durchzustehen, da sie gezwungen sind, als Kunstfigur zu leben, die möglicherweise mit ihrer wahren Persönlichkeit nichts zu hat.
Mit dem von ihr mitinitierten Projekt CASH MUSIC hat sie sich weitgehende Unabhängigkeit von der Musikindustrie gesichert und bietet anderen Künstlern eine Plattform.

Die einzige (!) Kundenrezension bei amazon spricht von "Learn To Sing Like A Star" als "perfekter Wintermusik"; da lag ich mit meiner Einschätzung, das Album an den Schluss unserer "Herbstmusik-Reihe zu stellen, doch nicht so falsch.
Es stimmt schon, die Stimmung ist nicht frühherbstlich melancholisch oder bedrückend wie Stürme über bereits entlaubte Bäume, man denkt an den ersten Schnee und daran, daß der Winter zum Leben gehört. Alles ist tot - oder es kehrt für ein paar Monate Ruhe ein, je nach persönlicher Lebensphilosophie.

- Martin - 12/2012

Das Album bei amazon
Homepage von Kristin Hersh