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Rings ein Verstummen, ein Entfärben:
Wie sanft den Wald die Lüfte streicheln,
Sein welkes Laub ihm abzuschmeicheln;
Ich liebe dieses milde Sterben.

(Nikolaus Lenau)


In gemäßigten Klimazonen ist der Herbst die Zeit der Ernte und des Blätterfalls - sagt Wikipedia. Vor einem Jahr schrieben die Kollegen der ZEIT über "Herbstplatten", über den Sound des In-sich-Gehens und das Zelebrieren der Vergänglichkeit. Die Musikauswahl ist entsprechend: Getragenes, Melodiöses, gerne auch Düsteres - aber mit Sicherheit kein fröhliches "Walking on Sunshine" von Katrina and the Waves oder irgendein anderer Sommerhit. In den kommenden Wochen wird es an dieser Stelle einiges über "Herbstmusik" zu lesen geben, mit großzügiger Bandbreite: Von goldener Herbstsonne und letzten Spätsommerausläufern, untermalt vom passenden Soundtrack, bis hin zur gnadenlosen Doom-Walze für die düsteren Tage mit Regen und Dauernebel im November. Welche Alben dabei in welcher Reihenfolge vorgestellt werden, entscheidet sich kurzfristig nach Laune und Tagesform. In diesem Sinne: Stay tuned!

[1] GRANT LEE BUFFALO - fuzzy (1993)

Eigentlich war diese Band schon seit etlichen Jahren nicht mehr aktiv, Sänger und Gitarrist Grant-Lee Phillips verfolgte seither seine Solokarriere. Doch was lese ich da kürzlich im Netz? GLB haben vor einigen Monaten wieder ein paar Konzerte gespielt - und das in Originalbesetzung (Bassist Paul Kimble war nach dem dritten von insgesamt vier Studioalben ausgestiegen). Mein Erstkontakt liegt genau 17 Jahre zurück: 1994 trat das Trio in einer Jugendsendung des Bayerischen Fernsehens auf, in der es neben meist sehr interessanten Diskussionen über aktuelle Themen auch Live-Musik zu hören gab.

Was mich unmittelbar und mit anhaltender Wirkung beeindruckte, war die Intensität des Buffalo-Sounds, diese Mischung aus melancholischen Balladen und einigen kraftvolleren Songs, das Nebeneinander von akustisch-melodiösen Passagen und leidenschaftlichen Ausbrüchen. Vier Alben nahm die Band auf, eine abschließende Compilation nach dem Split nicht mitgezählt, von denen mir das Debüt "Fuzzy" aus dem Jahr 1993 auch heute noch am meisten bedeutet und welches auch GLBs beste Scheibe sein dürfte.

Das Eröffnungsquartett steht wie ein Monument, auch nach bald zwei Jahrzehnten: "Shining Hour" swingt locker und unbeschwert vor sich hin, wobei das nicht darüber hinwegtäuschen sollte, daß die Instrumentierung ziemlich feinsinnig ausgearbeitet ist (Piano-Einlage, das Zusammenspiel von Drums und Baß). Mit "Jupiter and Teardrop" folgt ein Stück, das exemplarisch ist für den GLB-Sound: Wehmütiger Gesang, mal sanft und dann aber auch eine Spur aggressiver, wenn die Akustische ins Krachige überwechselt.

Der Titelsong "Fuzzy" ist ebenfalls eine Klasse für sich, auch wenn der mitunter hohe Gesang vielleicht etwas schräg wirken kann. Die perfekte Balance findet die 94er-TV-Version des BR, von der ein Mitschnitt auf Youtube kursiert: Da ist wieder alles drin - von sanfter Melodie bis zur elektrisch aufgebrezelten Akustischen, die immer wieder dazwischenröhrt, um es nicht allzu besinnlich werden zu lassen.

Einige Jahre zuvor, während der Blütezeit meiner Lärm-Metal-Begeisterung, wären GLB möglicherweise bei mir noch nicht so eingeschlagen wie 1994, in einer Zeit zwischen Zivildienst und bevorstehendem Studium. Seither ist die GLB-Musik regelmäßiger Begleiter und ganz besonders ein Song wie "Wish you well", in dem alle Stärken der Band auf den Punkt gebündelt auftauchen. Geht's noch besser?

Nicht daß die Band auf ihrem Debüt nach den ersten vier Songs ihren gesamten kreativen Pulvervorrat in einem Eröffnungsfeuerwerk bereits komplett verballert hätte - es fällt nur etwas schwer, gegen diesen Einstieg, der die Meßlatte sehr hoch anlegt, zu bestehen. Mit Stücken wie "Dixie Drug Store", dem sperrig-intensitätsgeladenen "America Snoring" und "Grace" (der härteste Song) ist aber noch genug erstklassiges Material an Bord, bevor man mit dem entspannten "You just have to be crazy" entlassen wird.

"Wer Musik will, mit der man sich tatsächlich in tiefe Depression stürzen will, ist mit ‚Fuzzy' richtig bedient" schrieb ein User bei Amazon zu einem anderen GLB-Album, wobei die Frage erlaubt sein muß, wie es um sein Nervenkostüm bestellt ist, wenn er bei diesem zwar melancholischen, aber immer auch Positives ausströmenden Sound schon in eine veritable Krise zu verfallen droht. Was macht der dann eigentlich, wenn ihm mal nachts aus Zufall unterm Kopfhörer ein Album von SUNN O))) begegnet? ;-)

GLB im Netz
"Fuzzy" bei Amazon mit Hörproben

- Stefan - 10/2011

 

[2] THE CURE - Seventeen Seconds (1980)

Wer in den Achtzigern musikalisch sozialisiert wurde, dem dürften die Engländer THE CURE irgendwann über den Weg gelaufen sein - selbst als eingefleischten Metaller erreichten einen ja hin und wieder auch musikalische Funksignale von anderen Planeten. THE CURE hatten in dieser Zeit die Entwicklung von der Indie-Band zum Star-Ruhm mit Mainstream-Potential durchlaufen, ohne dabei glattgebügelte Pop-Weichspüler zu werden.

Wo soll man nun ansetzen in einer Herbstmusik-Rubrik? Bei den Anfängen der Band, die bis in die Siebziger zurückreichen? Oder gleich bei "Pornography", dem 1982er Meilenstein voller gequälter Depression? Suchen wir die goldene Mitte, die im Jahr 1980 liegt: "Seventeen Seconds", die vielleicht konsequenteste Bündelung aller Stärken der frühen CURE-Jahre und der erste Teil der sogenannten "Dark Trilogy", die mit den Alben "Faith" (1981) und "Pornography" komplettiert wurde.

Es ist eine Platte mit über weite Strecken sehr simpel klingenden Arrangements, nichts da zu hören von aufdringlich zur Schau gestellter Virtuosität oder groß aufgeblasenen Klanggebäuden. Auf dieser Scheibe dominiert eindringliche Atmosphäre mit einfachen Mitteln, auch dank der Baß-Künste des zuvor neu zur Band gestoßenen Simon Gallup, der THE CURE seither (mit Unterbrechungen) angehört.

Auffallend ist das relativ hohe Aufkommen an Instrumentalstücken, wobei Track Nr. 6 ("The Final Sound") nur knapp eine Minute läuft, um dann plötzlich abzubrechen. Der Anekdote zufolge waren Budget und Zeit derart beschränkt, daß eine zweite Aufnahmesession offensichtlich nicht drin war, und so zerbröselt das Stück, das eigentlich länger laufen sollte, unvermittelt vorzeitig. Kein allzu großer Verlust allerdings, denn um so schneller ist der Weg frei für die CURE-Hymne schlechthin aus dieser Zeit ...

Vorangetrieben von einem genialen Baß-Rhythmus, wird "A Forest" mit einer geradezu stoischen Gelassenheit zelebriert, bei Live-Konzerten gerne auch schon mal doppelt so lang als in der Albumversion. Zum Top-Ten-Hit avancierte "A Forest" nicht, doch musikalisch ist das Stück wohl genau das, was im Englischen "signature song" heißt: Ein Zeitdokument wird zur Ikone und zur musikalischen Standortbestimmung gleichermaßen. Dabei hat der Track so viel Substanz, daß man auch nach über 30 Jahren seiner nicht überdrüssig wird.

Neben "A Forest" ist "Play for today" der zweite Song auf "Seventeen Seconds" mit etwas Drive, ansonsten dominiert hier in Musik übersetztes Nebelwetter: Sparsame Gitarren, dezente Keyboarduntermalung, dazu der markante Gesang von Frontmann Robert Smith und als roter Faden das im Gesamtsound prominent in Szene gesetzte Baß-Fundament. Melancholisch und dabei monoton, das könnte ein Kritikpunkt sein, was sich jedoch schnell relativiert. Vor allem, wenn man das eher kurz geratene Album (nach knapp 36 Minuten ist Feierabend) mehrfach hintereinander hört - dann offenbaren sich fast hypnotische Qualitäten. Into the trees ...


Klicken, um zum "A Forest"-Video bei Clipfish zu gelangen

"I'm lost in a forest … all alone … I'm running towards nothing … again and again and again"

Die offizielle THE CURE-Homepage
17 Sekunden für eine Handvoll Euro

- Stefan - 10/2011

[3] COUNT RAVEN - Mammons War (2009)

Es ist Zeit für Doom Metal, denn welches Schwermetall-Subgenre sollte besser geeignet sein für den Herbst? COUNT RAVEN aus Schweden sind seit den Achtzigern aktiv, lagen aber zwischenzeitlich für einige Jahre auf Eis. Rechnet man von "Mammons War" zurück bis zum bis dahin letzten Studioalbum, sind es sogar 13 Jahre, die bis zum Comeback verstrichen. Der Grund für die lange Abstinenz: Interner Streit, Verlust des Plattendeals, Umbesetzungen, schließlich das (vorübergehende) Aus. Doch derart sang- und klanglos konnte die Geschichte von COUNT RAVEN natürlich nicht enden ...

Mit zwei neuen Mitstreitern nahm Sänger und Gitarrist Dan Fondelius das Album "Mammons War" auf. Die Resonanz war enorm, die Kritiken bestanden mitunter aus wahren Lobeshymnen. Wieder eines dieser Alben, die zwar für sich betrachtet gut, aber dennoch überschätzt sind, weil die Rezensenten die Wiederhörensfreude gleich mit in ihre Bewertungen integriert haben? Keineswegs! Das läßt sich in diesem Fall mit gutem Gewissen sagen: "Mammons War" ist eine Scheibe, die den "test of time" (vor genau zwei Jahren ist sie erschienen) auch mit größerem zeitlichem Abstand bravourös besteht.

Die typischen Elemente ihres Sounds haben COUNT RAVEN dabei bewahrt: Tonnenschwer und erstklassig produziert legen die Gitarren das Fundament, veredelt vom klagenden Gesang, bei dem natürlich in gefühlt JEDER Rezension erwähnt werden muß, wie beinahe klonartig er sich am großen Vorbild Ozzy Osbourne orientiere. Natürlich, die Ähnlichkeit ist zweifellos vorhanden, aber Fondelius mutiert deswegen ja nicht zum Guttenberg des Doom Metal, nur weil er wie dieser Sänger einer in den Siebzigern nicht ganz unbekannten Rockband klingt, die auch heutzutage noch einen gewissen Namen haben soll ...

"Mammons War" besticht durch einen in sich geschlossenen Sound, dem es aber nicht an Abwechslung fehlt: Zwei Keyboard-Stücke, darunter der Titeltrack, vermeiden den bei Doom nicht ungefährlichen Effekt der drohenden Monotonie, ein weiterer Song ist rein akustisch. Den Rest des Albums teilen sich flotte "Stampfer" (klingt abwertend, soll es aber nicht) und episch-raumgreifende Slow-Motion-Hymnen. Sehr bitter wird es textlich in "To kill a child", das auf Fondelius' Kampf um Unterstützung und das Sorgerecht für seine autistische Tochter basiert - wobei man den Titel und einzelne Verse nicht unbedingt wörtlich nehmen sollte, auch wenn es in einem Interview mit Fondelius diesen Anschein hatte:

"It deals with my handicapped child who no longer gets any help from the Swedish government, same as any other handicapped in Sweden. So, my outside world must change, or else I run the risk of having to end my child's life by my own hand before I get too old. Jesus once said, 'See what is in front of you, identify it, and speak the truth.' This is what is lacking in society today. If people acted for each other, the devil could not run this planet as smoothly as he does today. People have to start seeing outside their little boxes. If you don't, you're not living."
(Quelle: http://www.examiner.com/rock-music-in-boston/twenty-years-later-count-raven-retain-their-legendary-doom-status-with-mammon-s-war?render=print)

Solche Zeilen können einen kaum kalt lassen und auch sonst sind die Texte einen eingehenden Blick ins Booklet wert. In Verbindung mit der Musik ist alles am Start: Zorn, Schwermut, Trauer, das Gefühl der Ausweglosigkeit - und doch immer auch ein Moment der Hoffnung. Diese Bandbreite an Emotionen ist musikalisch kongenial umgesetzt, stellenweise ergreifend - etwa im Gitarrensolo von "A Lifetime", das mit vergleichsweise simplen Mitteln einen Moment erschafft, der mitreißt wie kaum ein anderer auf diesem herausragenden Album, mit dem COUNT RAVEN ein seltenes Kunststück gelungen ist: Eine Comeback-CD zur besten im Gesamtkatalog der Band werden zu lassen (ich schließe mich dieser Behauptung anderer Fans einfach mal an). Mittlerweile kursiert die Scheibe mehr oder weniger zur Gänze bei Youtube, aber in diesem Fall sollte der Kauf eine leichte Entscheidung sein: "Mammons War" ist ein Album, das nachwirkt, das immer wieder gehört werden will, bis die Nacht vorüber ist und draußen die Sonne wieder aufgeht ...

Wohin der schnöde Mammon fließen darf
COUNT RAVEN bei Metal Archives

- Stefan - 10/2011


[4] EARTH - Hibernaculum (2007)

Juni 1994, Besuch zu einem Interviewtermin beim Bassisten einer Todesmetall-Combo. Zu kühlem Gerstensaft wurde Musik kredenzt. Ich kann mich vage an eine Christian-Anders-CD erinnern, die in dieser Nacht lief, doch wirklich im Gedächtnis haften blieb ein Album einer Band, die sich EARTH nannte. Ebenso überschaubar auch der Titel dieser Scheibe: "Earth 2" (Untertitel: "Special Low Frequency Version"). Der Inhalt: Drei Songs mit exzessiv zelebrierter Überlänge zwischen 15 und 30 Minuten. Ekstatischer Höhepunkt: "Like Gold And Faceted", ein halbstündiges Dröhn-Monster mit einem langsam vor sich hin fließenden, monotonen Brummen. Sprechen und somit die heilige Darbietung zu stören war nicht erlaubt, während die CD lief, nur ehrfürchtiges Zuhören (bzw. der Versuch, nicht einzuschlafen oder sich ein Grinsen zu verkneifen).

Wollte man dem Gehörten eine fachkundige Umschreibung verpassen und somit eine Genre-Bezeichnung, wäre das wohl "Drone Doom". Besondere Kennzeichnen: Überlange Stücke, monotone oder sich stetig wiederholende Songstrukturen, minimalistische Instrumentierung. Die besondere Wirkung ist bei gelungenen Tracks nicht von der Hand zu weisen, sofern man eine Ader dafür hat und bereit ist, sich darauf einzulassen. Heutzutage schaffen es Gruppen wie SUNN O))) mit ihren gerade von EARTH maßgeblich inspirierten Klangskulpturen sogar bis ins kulturbeflissene Feuilleton bildungsbürgerlicher Publikationen.

EARTH haben sich in den Folgejahren auch anderen Klängen geöffnet. Warum auch nicht, schließlich ist es auf Dauer eben nicht mehr besonders radikal oder innovativ, über 15 oder gar 20 Jahre Drone-Sounds in Permanenz zu produzieren, musikalisch würde der Stillstand drohen. Das kann man von "Hibernaculum", dem im Jahr 2007 erschienenen Album, wirklich nicht behaupten. Drei Stücke sind Bearbeitungen älterer Songs, das vierte war auf einer Split-12'' mit SUNN O))) erschienen. Im Vergleich zu "Earth 2" ist die CD aber von beinahe schlichter Knappheit, die Durchschnittslänge der Stücke beträgt nur neun Minuten.

Monoton und sich wiederholend sind EARTH auf "Hibernaculum" geblieben, jedoch kurzweiliger arrangiert und angenehmer hörbar - so als hätten sich Drone, Elemente früher Pink Floyd, Country-Reste und Alternative Rock miteinander verbunden. Simpler Songaufbau, zwingend in seiner nüchternen und mit keinerlei überflüssigem Firlefanz garnierten Klarheit. Drums und Baß legen das Fundament, darüber thront die Gitarre als Führung, ohne dabei mit unnötigen Solo-Eskapaden und penetranter Zurschaustellung virtuoser Griffbrettakrobatik zu stören. Langweilig ist das trotz der gewollten Eintönigkeit keineswegs, im Gegenteil: Die meditative Ruhe entschleunigt das Hörerlebnis, liefert Essenz statt Beiwerk. Gesang fehlt hier folgerichtig, denn was wollte man zu Tracks wie "Ouroboros is broken" oder "Coda Maestoso in F (flat) Minor" schon singen?

Erhellend für das Verständnis, wie EARTH auch live funktionieren, ist die beiliegende DVD mit dem Tourfilm "Within the Drone", Anfang 2006 während der Europa-Tour mit SUNN O))) aufgenommen. Der Sound könnte etwas klarer sein, allerdings kam bei diesem Mitschnitt (Live-Ausschnitte, Interviews, Tourbus-Impressionen) offensichtlich kein professionelles oder gar HD-Equipment zum Einsatz, weshalb die gebotene Qualität schon in Ordnung geht. Sehenswert ist die Live-Performance von EARTH, die teilweise so ganz anders abläuft als bei "normalen" Rock- oder Metalbands: Kein hektisches Herumhampeln auf der Bühne, kein wildes Headbangen, kein Posieren fürs imposant heruntergefiedelte Solo.

Hier dominiert statt dessen die konzentrierte Gelassenheit, wobei z.B. das Zeitlupen-Schlagzeugspiel schon sehr ausgefallen ist, wenn man das einmal mit jenen Bildern vergleicht, die man von Live-Videos oder eigenen Konzertbesuchen kennt: Schlagzeug-Burgen, hinter denen ein Trommeltier à la "Animal" von den Muppets eingemauert ist, sind hier wirklich ganz weit weg. "Within the Drone" macht EARTH faßbar und lebendig, allerdings wären Untertitel bei den Interviews mitunter nicht schlecht gewesen.

Musikalisch und visuell (siehe Booklet) ist "Hibernaculum" ein echtes Herbst-Album, wie geschaffen für einen gemütlichen Abend bei einer Tasse Tee oder einem guten Rotwein. Genießbar auch für Hörer, die bei dem Begriff "Drone" zurückschrecken könnten, weil sie dahinter eine monoton dargebotene Reise nach Dröhnland vermuten: Auf dieser Scheibe waren EARTH schon in völlig anderen Gefilden angekommen, die sich als gehaltvoll und gereift bezeichnen lassen. Ganz anders als jener eingangs erwähnte Interviewversuch, der sich beim Abhören des Tapes als komplett für die Tonne entpuppte. Offenbar hatten schwächer werdende Batterien statt des Interviews (nur noch sehr schwach im Hintergrund zu hören) lediglich ein monotones Brummen auf dem Band hinterlassen. Mein erstes Drone-Interview sozusagen, nur leider vollkommen unverwertbar ...

EARTH bei Sub Pop
"Hibernaculum" bei Amazon

- Stefan - 11/2011

[5] INTERPOL - Antics (2004)

Eine Herbstmusik-Reihe ohne Interpol? Schwer vermittelbar, deshalb an dieser Stelle eine Rückschau auf das zweite Album der Band, die wir zu Zeiten des Debüts ziemlich aktuell entdeckt und dann auch vorgestellt hatten, wenn ich mich recht entsinne. Veröffentlichung des Erstlings war im Sommer 2002, besprochen wurde er von Martin im Dezember des gleichen Jahres - für unsere Verhältnisse schon fast "ARD Brennpunkt"-Tempo. Der Nachfolger "Antics" blieb dann allerdings völlig unter unserem Radar ... warum auch immer.

Seltsam, ist doch "Antics" zumindest bei mir das mit weitem Abstand meistgespielte Interpol-Album. Gegenüber dem Vorgänger fiel es etwas "rockiger" aus, was in Anbetracht des melancholischen, eher getragenen Grundtons vielleicht nicht der passendste Begriff ist. Jedenfalls sind die Songs etwas abwechslungsreicher und mitreißender arrangiert als das Material auf "Turn on the bright lights", was schon die ersten beiden Tracks zeigen: Ist "Next Exit" noch durchgehend langsam, klar und kontrolliert, bricht es im Refrain von "Evil" heraus, ziehen Gitarren und Drums das Tempo im Refrain ruckartig an. Mit diesen Kontrasten spielt die Band auch bei den nachfolgenden Stücken, setzt Zurückhaltendes neben einen geradlinigen Song wie "Slow Hands".

Der ohnehin markante Baß, ein dominantes Instrument im Interpol-Sound, kommt auch bei "Public Pervert" sehr gut zur Geltung und leitet das Schlußquartett auf "Antics" ein, bei dem die Band sich nicht etwa mit Füllmaterial auf CD-Länge rettet, sondern noch einmal so richtig anzieht. Die sich stetig wiederholende Gitarrenmelodie in "Length of Love" mag zu Anfang vielleicht einfallslos klingen, bohrt sich aber in der zweiten Hälfe des Stücks endgültig fest. Am Ende schließt sich dann mit "A time to be so small" der Kreis zum Eröffnungstrack: Getragene Gitarren, gebremster Rhythmus, keine Hektik mehr, Konzentration auf der Zielgeraden.

Was nach "Antics" folgte, wurde redaktionsintern mit eher durchwachsenen Reaktionen beäugt: "Our Love to admire" (auch noch nicht besprochen, aber wir haben ja Zeit) war noch recht gut, von der Brillanz dieser Scheibe hier allerdings schon ein beträchtliches Stück entfernt. Die 2010 veröffentlichte vierte CD, schlicht "Interpol" getauft, erhielt seltsamerweise vielfach sehr gute Kritiken. Teilweise hieß es sogar "das reifste Album" und es folgten andere Lobpreisungen dieser Art, wobei ich mich wirklich frage, auf welcher Basis man denn zu dieser verwunderlichen Einschätzung kommen kann. Haben wir die gleiche CD gehört?

Vermutlich haben diese Kritiker dank höher entwickelter intellektueller Fähigkeiten einfach etwas erkannt, das mir Normalsterblichem verborgen blieb. Da wird große Reife ausgemacht, wo unsereins als Laie selbst nach dem x-ten Hördurchgang verzweifelt nach den ergreifenden, mitreißenden, melancholischen oder vielleicht einfach mal nur schönen Songs sucht, die sich einem ja bei "Antics" noch förmlich aufdrängten. Die Einschätzung von Kollege Heiko ("crap fest", quasi Müll im Quadrat) mag ziemlich hart klingen, aber manchmal müssen bittere Erkenntnisse eben auch mit der gebotenen Klarheit formuliert werden.

"Antics" dagegen ist eines jener Alben, bei denen sowohl die Einzelleistungen stimmen wie auch der Fluß des Gesamtwerks. Läßt man die Scheibe am Stück durchlaufen und stellt sich dazu Live-Atmosphäre vor, könnte die CD auch ein herausragendes Konzert sein, bei dem sich die innere Dramaturgie nicht an der Qualität der Songs orientiert (d.h. Füllmaterial ab ins letzte Drittel, wo es nicht so auffällt), sondern auf ein gekonntes Auf und Ab von Stimmungen Rücksicht nimmt. Da erfüllen dann auch Stücke, die nicht unbedingt vollkommen gelungen sind, ihren Zweck und stören den Fluß des Ganzen nicht. Das ist es, was "Antics" aus der bisherigen Interpol-Discographie heraushebt und zu ihrem bisher besten Album werden läßt.

Das Interpol-Forum
"Antics" bei Amazon

- Stefan - 11/2011

Wenn "Antic" das Herbstalbum von Interpol ist, dann ist "Turn On The Bright Lights" ihr Werk für die weiße Jahreszeit. Mir gefällt jenes einen Tick besser, vielleicht kommt es einer Hommage an die Band aus Manchester, die dieses Mal nicht in einem Text zu Interpol genannt werden soll, am nächsten. Vor ziemlich genau vier Jahren durfte ich Interpol live in der Tonhalle in München erleben, wo sie viele Songs aus den ersten beiden Alben zelebrierten, mit Blonde Redhead als Vorband - a night to remember...

- Martin - 11/2011

[6] BLACK SABBATH - Master of Reality (1971)

Ja, auch beim ZWNN gibt's Recycling - aufmerksame Leser haben das längst gemerkt, wenn wir von Zeit zu Zeit Interviews aus NONKONFORM-Zeiten ins Online-Zeitalter herübergerettet haben. In unserer Klassiker-Rubrik sind BLACK SABBATH mit "Master of Reality" schon einmal in Erscheinung getreten, allerdings war der Text dort ziemlich knapp gehalten. Pünktlich zur erneuten Reunion der Originalbesetzung der frühen Jahre (der wievielten eigentlich?) soll das Album noch einmal zu neuen Ehren kommen, gibt es doch mittlerweile auch eine "Deluxe Edition" der Scheibe. Da kann der Sammler natürlich nicht Nein sagen ...

Irgendwann Anfang der Neunziger war es wohl, daß sich in Bayern vor einem Auftritt (das dürfte zu "Headless Cross"-Zeiten gewesen sein) ein gottesfürchtiger Zirkel zu Wort gemeldet hatte, was es als Kurznachricht immerhin in unsere regionale Tageszeitung schaffte. Inhaltlich war's natürlich der übliche Käse: Hinter dem Mond lebende Gestalten hatten angesichts eines bevorstehenden Sabbath-Gigs entdeckt, daß es auch in der Rockmusik Teufelsanbeter geben könnte und diese nun ausgerechnet bei BLACK SABBATH vermutet. Das Empörungsritual stieß jedoch auf nur wenig Resonanz: Berichte von Konzertverboten oder Straßenschlachten zwischen Bibelfans und Sabbath-Anhängern wurden der Nachwelt nicht überliefert.

Außerhalb der Provinz dürfte sich zu diesem Zeitpunkt bereits herumgesprochen haben, daß die ach so schlimme Band ihre Tantiemen nicht an den gehörnten Herrn "south of heaven" überwies, auf der Bühne keine schwarzen Messen zelebrierte und die Jugend allenfalls mit zweifelhaften Plattencovern ("Born again" - alter Schwede!) zu verderben suchte. Hätte man sich die Mühe gemacht und bereits 20 Jahre zuvor bei den Texten etwa auf "Master of Reality" etwas genauer hingehört, hätte sich das ganze okkulte Brimborium, das der Band hartnäckig attestiert wurde, in dieser Form vermutlich gar nicht so lange gehalten.

Ein Stück wie "After forever" spricht eine völlig andere Sprache, könnte auch von einer Band aus dem offen christlich auftretenden Lager stammen. Einem wiederum völlig anderen Umfeld entsprang eine Coverversion des Tracks, die BIOHAZARD für einen Tribute-Sampler eingespielt hatten: Muskelbepackte Crossover-HC-Metal-Männlein hüpfen im dazugehörigen Videoclip herum, lassen sich beim Tätowieren filmen und die typischen "Motherfucker"- und "Come on!"-Shouts dürfen auch nicht fehlen. Irgendwie skurril und zum Text will das nun so gar nicht passen, musikalisch ist diese Version aber nicht übel - was beweist, wie unverwüstlich das Original ist. Um das kaputtzukriegen, müßte man sich offenbar wirklich anstrengen.

"Master of Reality" ist ein auffallend kurzes Album, gerade mal ca. 33 Minuten lang - zieht man noch die beiden Instrumentalstücke ab, die eher Intermezzo-Charakter haben, bleiben gerade mal sechs Songs. Aber natürlich ist dieser Ansatz schon mal völliger Käse, denn was nützt einem ein Longplayer mit einer Stunde Laufzeit, wenn davon locker ein Drittel höchstens eine Single-B-Seite abgegeben hätte? Unter dieser Prämisse betrachtet fällt die Bilanz selbstredend ganz anders aus: Das Album ist ein Klassiker, dem man - so abgedroschen das auch klingen mag - das Attribut "Stilbildend" in Gold und mit Ehrennadel verleihen möchte.

"Sweet Leaf" mit Original-Tony-Iommi-Husten als Ode an das Gras (und es geht hier nicht um Rasenmähen), das erwähnte "After Forever" oder das herrlich rumpelnde "Children of the Grave" (wieder mit bemerkenswertem Text, diesmal über eine junge Generation im Schatten der atomaren Gefahr - im Jahr 1971!) fräsen sich mit diesem markanten, knarzenden Gitarrensound ins Langzeitgedächtnis. Musikalische Unsterblichkeit erlangte die Platte auch durch die Jahrhundert-Riffs in "Lord of this World" und "Into the Void" (1:14!), wobei sich zwischen diese beiden Tracks noch die atmosphärische Ballade "Solitude" eingeschlichen hatte.

In einer Reihe von Special Editions mit umfangreichem Bonusmaterial erschien auch "Master of Reality" in einer "Deluxe"-Version. Um das Retro-Flair auf die Spitze zu treiben, sind unter den durchsichtigen Trays der beiden CDs sogar die Label der LP-Seiten abgedruckt (was natürlich kein Mensch braucht, aber immerhin schön zu sehen, daß bei den Produktmanagern solcher Editionen bisweilen echte Nerds sitzen, die solche Projekte nicht nur aus kommerziellen Gründen stemmen). Das Booklet enthält einen ausführlichen Begleittext, die Texte und einige Fotos, darunter eine irritierend bunte brasilianische Cover-Variation.

Die Songs auf der zweiten CD in diesem Set sind nicht allesamt verschollene Juwelen, die einen vor Ergriffenheit niederknien lassen, aber auch kein halbgarer Mist, der zur Entstehungszeit zu Recht ins Archiv verbannt wurde. Soundtechnisch ist das Ganze einwandfrei, hier wurden also keine völlig verrauschten Demobänder reanimiert. "Weevil Woman ´71" (remember "Evil Woman"?) ist ein unveröffentlichter Track, während der Rest aus Variationen von bereits Bekanntem besteht. "Sweet Leaf" und "Children of the Grave" sind mit anderem Text zu hören, dazu gibt's Instrumentalversionen von "After Forever" und erneut "Children of the Grave". Alternativ zur Albumfassung taucht "Lord of this World" noch einmal in einer Einspielung mit Piano und Slide-Gitarre auf. Nicht ganz so überzeugend ist die "Spanish Sid"-Version von "Into the Void", die am ehesten nach einem Demo klingt und von der auf dem Album veröffentlichten Aufnahme klar übertroffen wird.

Braucht man das alles? Nicht unbedingt, allerdings ist die Präsentation alles andere als lieblos, so daß sich der Kauf der erweiterten Album-Edition durchaus lohnt. Und was die Scheibe als solche betrifft, sollen Dr. Copy und sein Assistent Paste das letzte Wort haben. Es begab sich im Oktober 2002, als im ZWNN geschrieben stand: "Morbide Schönheit, musikalisch zeitlose Substanz, Härte, Stil, Heaviness: Black Sabbath haben mit dieser Platte alles komprimiert, was ihre Musik so hörenswert macht." Kann man so stehenlassen, auch wenn es vielleicht ein bißchen peinlich ist, sich selbst zu zitieren, als stünde da eine in goldenem Rahmen eingefaßte Weisheit, einst in nebelverhangener Oktobernacht den auf "Standby" geschalteten Hirnwindungen entrissen ...

"You're searching for your mind, don't know where to start" (aus: "Lord of this World")

Nerd-Overkill: Die "Master of Reality"-Vinylpressungen
"Master of Reality" bei Amazon

- Stefan - 11/2011

[7] CARLA TORGERSON - Saint Stranger (2004)

Ein Exkurs gleich zu Beginn, warum nicht? Carla Torgerson wird als Name vielleicht nicht auf Anhieb jedem etwas sagen, ihre Hauptband THE WALKABOUTS vermutlich schon eher. Das erste Mal kam ich mit der Musik der US-Folk-Rocker durch das legendäre Magazin "Howl" in Berührung, dessen Macher früher das "Weekend of Fear"-Filmfestival organisierten. Im "Howl" wurden Musik und Filme gleichberechtigt besprochen und eine 7"-Single lag als Bonus bei. Wenn ich mich recht entsinne, waren die Walkabouts auf einem dieser EP-Sampler mit dem Song "Maggie's Farm" vertreten (ein Bob-Dylan-Cover, sagt das Internet) oder war es doch eine Sub-Pop-Compilation, seinerzeit im "Zündfunk" des BR vorgestellt?

Die Band hat seit Mitte der Achtziger haufenweise Platten veröffentlicht, war live aktiv und auch entsprechend erfolgreich. Dennoch blieb bei diesem Arbeitspensum immer noch genug Raum für Solo-Aktivitäten und so brachten Carla Torgerson und Chris Eckman, beide bei den Walkabouts für Gitarre und Gesang zuständig, seit 1993 auch noch einen ganzen Schwung an eigenen Alben heraus (vermutlich leben beide in einem Parallel-Universum mit 48-Stunden-Tagen, die auf der Erde unbekannt sind). Ganz anders als wir vielbeschäftigten ZWNN-Redakteure, die wir Tag und Nacht mit viereckigen Augen vor dem PC sitzen und in der Vergangenheit trotzdem schon mal Monate bis zum nächsten Lebenszeichen verstreichen ließen ...

Zurück in das Jahr 2004: Nachdem Chris neben seinen Ausflügen mit Carla auch noch die Zeit für eigene Solo-Alben gefunden hatte, tat es ihm Carla mit "Saint Stranger" schließlich gleich. Das Resultat ist teilweise im Sound ziemlich nah an den Walkabouts, hat aber auch ganz eigenwillige Songs zu bieten. Der Einstieg ist nicht allzu überraschend, bleibt auf vertrautem Terrain: "Pelagic" (mit schönem Laut-leise-Kontrast) und das sanfte "Today is tomorrow, another day" docken an vergleichbare Walkabouts-Lieder an, während die Instrumentierung bei den folgenden Stücken ungewöhnlicher und auch experimenteller wird.

"Dreh es um" beispielsweise basiert auf einem monotonen Drum-Beat und hat, wie der Songtitel erahnen läßt, einen deutschen Text - der freilich aus merkwürdig zusammengesetzten Phrasen wie "Seemann deine Heimat ist die See" oder "Fuchs du hast mein Leben gestohlen gib es wieder her" besteht. Gesprochen und nicht gesungen sind "The forever last nothing" und das zweigeteilte "Temperature Dream Thinking Bed", in dem ein holpriger elektronischer Rhythmus auf schräge Gitarrensounds trifft. Nach mehrmaligem Hören klingt das gar nicht übel, im Gegenteil, und im Vergleich zu konventionelleren Walkabouts-Nummern, die hier und da zur Monotonie neigen, haben diese Tracks auch etwas erfrischend Ausgefallenes.

Wenn diese Scheibe einen Nachweis erbringen müßte, warum sie in dieser Rubrik stattzufinden hat, dann ist es mit Sicherheit ein Song wie "Through December", wobei Carla Torgerson den Text (der wie die Musik von Laura Veirs stammt) etwas umarrangierte, so daß die einzelnen Strophen des Stücks die Zeit von September bis in den düsteren Winter hinein abdecken. Ebenfalls aus fremder Feder stammt "Guardian Angels" (zu finden auf einer 1968 veröffentlichten LP der US-Psychedelic-Folk-Band "Pearls Before Swine") und auch hier ist Carlas neu aufgenommene Version besser als das Original, was am Arrangement der Musik liegt und auch daran, daß ihr Gesang schlicht und ergreifend einfach besser zu dem Song paßt.

Halten diese beiden Songs noch die Fahne des Melancholisch-Melodiösen hoch, schlägt das knapp achtminütige "Rend" einen anderen Weg ein und hat etwas von einer improvisierten, leicht apokalyptischen Klangcollage: "The captain knows his ship is sinking" ... aber nach mehreren Minuten des Schweigens (Stück 12 ist stumm) taucht das Album noch einmal auf, zum "Hidden track". Nur Gitarre, Carlas Gesang und ein kryptischer Text: "Once you will travel so far away you won't know where your front door is". Bis es jedoch soweit kommt, daß ich meine Haustür nicht mehr finde, entlasse ich den PC für heute in die verdiente Nachtruhe und suche lieber den Weg ins Bett. Der ist nicht allzu weit und auch nicht beschwerlich, sollte also noch zu finden sein ...

Chris und Carla live in Wien am Abend vor dem 11. September ...

Inoffiziell und informativ: http://www.thewalkabouts.com
"Saint Stranger" bei Amazon

- Stefan - 11/2011

[8] DAVID JUDSON CLEMMONS - Cold White Earth (2011)

Die ersten Songs aus diesem Album hörte ich am Abend eines warmen Augusttags 2010 im Keller eines kleinen Kinos in Fürth. David Clemmons spielte mit Jan Hampicke und James Schmidt als Begleitmusiker ein aufs Äußerste reduziertes Akustikkonzert vor 25 Leuten, nachdem sie am Tag zuvor als "Jud" bei einem Open Air an die Grenzen der Verstärkerleistung gegangen waren. Ziemlich genau ein Jahr später kam "Cold White Earth" heraus, "a collection of songs for the coldest, rainy day you can imagine", wie David auf seiner Homepage schreibt, "recorded in the extreme sub zero temperatures of a Berlin Kreuzberg Cellar". Ein Album, das mir, trotz der sommerlichen Veröffentlichung und des winterlichen Titels, sofort einfiel, als Stefan zum ersten Mal von seiner Idee für die Herbstmusik-Reihe sprach.

Manchem dürfte "Damn The Machine", Davids erste Band, noch ein Begriff sein, mit der er 1993 deren einziges und selbstbetiteltes Album veröffentlichte und sich danach vom Progressive-Metal verabschiedete. Mit seiner neuen Band "Jud" widmete er sich etwas, das man als eine Mischung aus Grunge und Stoner Rock umschreiben könnte, um dieser mit deren Nachfolger "The Fullbliss" ein größere emotionale, sprich melancholische, Dynamik zu geben. "Cold White Earth" ist sein zweites Solo-Album, auf dem er von musikalischen Weggefährten der letzten Jahre begleitet wird.

Das Album wird definiert durch Davids Stimme und seine Akustikgitarre, machmal erweitert von Violine, Bass und sparsamer Perkussion. Eine Verwandtschaft zu Nick Drake ist zu erkennen, jedoch ohne die Präsuizidalität dessen Alben, oder auch zu den Solo-Projekten von Justin Sullivan von "New Model Army". Die Texte erschließen sich nicht leicht, vielleicht werden hier fiktive Geschichten erzählt, vergangene Krisen aufgearbeitet; bei jedem Hörer werden einzelne Fragemente andere Assoziationen hervor rufen. "You've walked upon the rope of love / gazed into the gorge below / loaded as you stopped believing / cocked though you were still pure / aimed as you felt that feeling / shot when you were sure / yeah you shot when you were sure /and exploded into pure thin air" heißt es in "The Gorge Below". OK, irgendwie ist das schon präsuizidal...
Trotz aller Schwermut und Bitterkeit hinterläßt "Cold White Earth" ein Gefühl fatalistischer Hoffnung: "You don't have to share my faith / to sing the blues the way I do / destroy your life, for someone new / you can learn to sing the blues the way I do" ("Learn To Sing The Blues"). Schon in Fürth spielte David "To Live Is To Fly" von Townes Van Zandt, welches als Abschluss des Albums doch noch das warme Licht eines Herbstabends vor dem inneren Auge erscheinen läßt: "To live is to fly / Low and high / so shake the dust off of your wings / and the sleep out of your eyes; / shake the dust off of your wings / and the tears out of your eyes".

Seit über zehn Jahren (seit einem Taubheit verursachenden Jud-Konzert) höre ich nun die Musik von David Clemmons und verschenke sie gern an liebe Menschen zum Geburtstag. Was an ihr fasziniert, ist die Echtheit, die sein Werk durchzieht, eine Weiterentwicklung, ohne sich selbst zu verleugnen. Kein Rocker, der jetzt "auf Leise macht", sondern ein Künstler, dessen Persönlichkeit in allen seinen Schaffensphasen authentisch ist. Malt er mit "Jud" großformatige Wandgemälde mit "In-Your-Face"-Wirkung und mit "The Fullbliss" impressionistische Bilder für das cerebrale Wohnzimmer, so entwirft er mit seinen Solo-Werken Bleistiftzeichnungen, die das Wesentliche mit wenigen Strichen ausdrücken.

Honoriert wird dies mit euphorischen Kritiken in der Fach- und Weniger-Fachpresse (also hier) und kaum vorhandenen Kundenrezensionen bei amazon. Ich bin nicht sicher, ob "Seven People Paid" ein ironischer Seitenhieb auf die Wohnzimmeratmosphäre seiner Clubkonzerte sind, aber die Anzahl der Zuhörer ist für David Clemmons nicht das Kriterium für seine Spielfreude und die Länge seiner Live-Konzerte.

Geboren in Virginia und lange Zeit musikalisch aktiv in Kalifornien, lebt David Clemmons seit ein paar Jahren in Berlin, wo er auch einen Antiquitätenladen betreibt, in dem er spontan zu "Parasites" zu seiner Gretsch-Gitarre griff:

Homepage von David J. Clemmons, mit Shop und links zu Videos
"Cold White Earth" bei Amazon (wobei der Künstler beim Kauf über seine Homepage meist selbst eintütet)

- Martin - 12/2011


[9.1] EYEHATEGOD - Take as needed for Pain (1993)
[9.2] EYEHATEGOD - Southern Discomfort (2000)

Läßt man die bisherigen Alben in unserer kleinen Herbstmusik-Reihe Revue passieren, war es im Grunde (ohne das jetzt abwertend klingen zu lassen) eine Versammlung von musikalischen Schöngeistern: Getragene Klänge mit gefälligen Melodien und positiver Ausstrahlung. Wie eingangs erwähnt, sind im Herbst aber auch die düsteren Tage mit Regen und Nebel vorgesehen, insofern paßt der Abschluß unserer Rubrik für dieses Jahr: Wir steigen von den malerischen Wäldern, mit buntem Laub und goldener Herbstsonne, hinab in die dunklen Katakomben menschlicher Abgründe, erfüllt mit Depression, Drogen und Selbstzerstörung.

EYEHATEGOD sind schon seit mehr als 20 Jahren aktiv und haben, wenn man an dieser Stelle mal wieder das lexikalische Wissen bemühen will, ein äußerst merkwürdig benanntes Genre namens "Sludge" (dt. "Schlamm") mitbegründet. In die musikalische Praxis übersetzt bedeutet das soviel wie das Aufeinandertreffen der Aggression des Hardcore mit dem schleppenden Sound des Doom. Das geht tatsächlich zusammen, wie vor allem die zweite Scheibe von EYEHATEGOD "Take as needed for Pain" beweist. Wütende Ausbrüche, garniert mit heiseren, mehr herausgebrüllten denn gesungenen Vocals, wechseln sich ab mit brütend langsamen Passagen, bei denen auch Ausflüge in Rückkopplungsorgien und Drones ihren Platz haben.

Auf der Suche nach einem Schlagwort wäre "Wohlfühlmusik" so ziemlich das Unpassendste, was einem zu dieser Band einfallen kann. Nein, ausnehmend schön ist das wirklich nicht, womit man hier konfrontiert wird: Drogen und Alkohol, Entzug, psychische Deformationen, Krankheiten. Lebenskrisen und deprimierende Verhältnisse kanalisieren sich und werden zu einem kranken musikalischen Gebräu, das sich jenseits anheimelnder Gefälligkeit mit großer Intensität durch die Lautsprecher quält. "Lauter Kaputtnicks" würde ein Arbeitskollege von mir dazu sagen - oder frei nach Woody Allen: Bei dieser Band hat man das Gefühl, sie könnte jeden Moment zu spielen aufhören, von der Bühne gehen und Geiseln nehmen ... (wobei eine Kurzrecherche bei Google nachträglich ergab, daß diese Floskel schon in so einigen Musikreviews verbraten wurde, aber wenn dieses Internet meint, daß ich deshalb meine Kritik hier umschreibe, dann hat es sich sauber verrechnet!).

Neueinsteigern sei die 1993er Scheibe empfohlen, sie ist am strukturiertesten und zeigt am gelungensten die Stärken von EYEHATEGOD auf. Wer dennoch hier schon die weiße Fahne hißt und sich zurückzieht, tut wohl gut daran, denn auf den anderen Veröffentlichungen der Band würde mit Sicherheit ebenfalls nichts Passendes für ihn geboten. Entgegen der bisherigen Routine ist dieser Artikel ein Double Feature: Die Compilation "Southern Discomfort" von 2000 ist ebenfalls hörenswert, auch wenn sie ohne Zustimmung der Band auf den Markt kam und einen eher räudigen Eindruck hinterläßt - einige Tracks klingen z.B. sehr wie von knisterndem Vinyl oder billigen Tapes gemastert, wobei abgesehen davon der Sound doch ziemlich gut ist.

Die ersten sechs Stücke entstammen zwei EPs und sind mittlerweile auch auf der Wiederveröffentlichung des zweiten Albums zu finden, darunter "Serving time in the middle of nowhere" (einer der besten EHG-Songs). Gelungen sind auch die Alternativfassung von "Peace thru War" (anfangs sehr flott und mit dem markanten Kreischgesang, bei dem sich "Mike IX Williams" mal wieder so richtig austoben kann) und "Depress" mit einem herrlich rumpelnden musikalischen Gewaltakt zur Mitte hin, bevor einem die langsam dahinwalzende zweite Hälfte und das 16minütige "Dopesick Jam" den Rest geben. Im Gegensatz zu einer Schlammpackung wie dem Album "Come to Grief" von GRIEF (dafür finde ich momentan noch keine Worte) sind EYEHATEGOD deutlich fokussierter und bisweilen fast abwechslungsreich. Was aber freilich nicht bedeutet, daß mit ihnen überbordende Lebensfreude und beschwingte Stimmung einkehren würden ...

EYEHATEGOD live 2011, mit einem neuen Song!

Mit dem EHG-Doppelpack sind wir nun beinahe am Ende unserer kleinen musikalischen Herbstwanderung angelangt. Zu Anfang existierte nur eine spontan zusammengestellte List mit Titeln, von denen lediglich ein Teil letztlich den Sprung in diese Rubrik geschafft hat. Sollte es auch im kommenden Jahr wieder einen Herbst geben, falls uns nicht der Weltuntergang oder der Klimawandel zuvorkommen, sehen wir uns spätestens dann wieder. Damit beende ich meine Außenreportage und gebe zurück in die ZWNN-Sendezentrale ...

Kaputte Musik … EyeHateGod im Netz
"Take as needed for Pain" als MP3-Download

- Stefan - 12/2011

 

So langsam droht der Regen in Schnee über zu gehen. Es wird...

[10] WINTER - Into Darkness (1990)

Ich greife auf einem vor vielen, vielen Jahren für's NONKONFORM geschriebenen Text zurück, weil ich zu faul bin um weil er nichts an Relevanz verloren hat:

Ich zitiere aus "Matthias Herr's Heavy Metal Lexikon Vol. 4": "Ein dreiviertel Stunde werden dir WINTER überwältigende Visionen verschaffen, in denen du dich auf einer Bewußtseinsebene wiederfindest, die weder Leben noch den Begriff Zeit zu kennen scheint. Alles liegt hinter dir. Schmerz, Kummer, Leiden ... Alle Erinnerung ist erloschen, eine schwache Ahnung bleibt. Wer bin ich? Was war? Nichts. Immer schon? Ich weiß es nicht. Into Darkness..."

Besser kann man es nicht ausdrücken. Ich hab' die Platte für 5,90 DM erstanden und was ich erlebte, war schon seltsam. Oft war ich versucht, die LP (widerwärtig schimmelfarbenes clear Vinyl) auf 45rpm laufen zu lassen, um wenigstens einen Hauch von Rhythmus und Geschwindigkeit zu bekommen. Lähmender Doom, der "Sänger" keucht verschleimt durch die Rillen, was sag' ich, die ganze Platte ist KRANK! Jedoch... komischerweise fand ich "Into Darkness" gleichermaßen abstoßend und faszinierend, ich weiß nicht warum. Ich kann es nicht erklären, weshalb ich sie immer noch im Plattenschrank stehen habe (wo sie auch 2011 noch steht).
Mittlerweile verlieren die benachbarten Scheiben ihre Farbe, werden durchsichtig, eisgrauer Nebel quillt aus dem Schrank, greift nach mir. Into Darkn......................

WINTER - Live @Roadburn Festival, 15.04.2011

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"Into Darkness" bei amazon

- Martin - 1995 & 12/2011